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Serie „Kopfsache“„Es laut auszusprechen war das Schwerste“: Anett Kontaveit über ihr frühes Karriereende

Serie „Kopfsache“ / „Es laut auszusprechen war das Schwerste“: Anett Kontaveit über ihr frühes Karriereende
Anett Kontaveit war 2022 die Nummer zwei der Tenniswelt Foto: Editpress/Fernand Konnen

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Anett Kontaveit war im Juni 2022 die Nummer zwei der Tenniswelt, nur ein Jahr später musste sie im Alter von nur 27 Jahren ihre Profikarriere beenden. Eine chronische Rückenverletzung hinderte die Estin daran, weiter auf Weltklasseniveau zu spielen und vor allem den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. In der Tageblatt-Serie „Kopfsache“ erzählt sie, wie sie mit ihrem unerwartet frühen Karriereende umging.

Anett Kontaveit versucht, die Schmerzen auszublenden. Tennisspielen geht aber nicht mehr ohne. Vor ihrer Teilnahme an den Luxembourg Ladies Tennis Masters im Oktober ist sie sich schon bewusst, dass ihr Rücken wehtun wird. „Ich weiß, dass es passiert – oder zumindest bin ich darauf eingestellt. Es ist keine Überraschung mehr“, erklärt die Estin im Gespräch. Ihre Profikarriere hat Kontaveit im Sommer 2023 deswegen im Alter von nur 27 Jahren beenden müssen. An lange Turniere und anstrengendes Training nach den Ansprüchen einer Weltklassespielerin sei nicht mehr zu denken, schrieb sie damals auf Instagram: „Es ist unmöglich, in einem so hart umkämpften Bereich weiterhin auf höchstem Niveau zu spielen.“

Der „schwerste Moment“ ihrer Karriere kam ziemlich genau ein Jahr, nachdem Kontaveit ihren Zenit erreicht hatte. Zwischen September 2021 und April 2022 gewann sie 22 Indoor-Matches in Folge. In diesem Zeitraum holte sie vier ihrer insgesamt sechs WTA-Titel. Im Juni 2022 wurde sie daraufhin hinter der Polin Iga Swiatek an Position zwei der Weltrangliste geführt. Kurze Zeit danach machte ihr Rücken nicht mehr mit.

Motivationsprobleme

Die Schmerzen gingen nicht mehr weg. Die Diagnose: Bandscheibendegeneration. „Innerlich war es mir schon länger bewusst, doch ich versuchte irgendwie, weiterzumachen und meine Karriere zu verlängern.“ Sie besuchte Ärzte und Spezialisten, jedoch kamen alle zu dem gleichen Ergebnis. Ihr Körper macht Profitennis nicht mehr mit. „Das laut auszusprechen, war das Schwerste. Ich habe am Anfang jedes Mal angefangen zu weinen, wenn ich darüber sprach.“ Kontaveit ringt auch Monate später bei dem Thema noch mit den Tränen, kann sie aber mit Mühe zurückhalten.

Anett Kontaveit war drei Monate nach ihrem Karriereende zu Gast bei den Luxembourg Ladies Tennis Masters
Anett Kontaveit war drei Monate nach ihrem Karriereende zu Gast bei den Luxembourg Ladies Tennis Masters Foto: Editpress/Fernand Konnen

Kontaveit war sich immer bewusst, dass ihre Profikarriere irgendwann vorbei sein würde, das Ende mit 27 kam allerdings viel früher als gedacht. „Ich hatte nie vor, ‚ewig‘ zu spielen – und ich war mir immer sicher, dass ich, wenn ich die Entscheidung eines Tages treffen muss, damit klarkommen werde. Aber es war viel härter, als ich dachte“, blickt sie darauf zurück. „Ich spiele Tennis, seitdem ich sechs Jahre alt war. Mein ganzer Fokus lag quasi mein Leben lang auf dem Tennis. Es gab nichts anderes, deswegen war die Entscheidung auch so schwer.“ Es liege in ihrer Natur, dass sie lange und hart über Dinge nachdenkt, bevor sie eine Entscheidung trifft. Sie tat dies auch zusammen mit einem Therapeuten. Die Zeit beschreibt Kontaveit als stressig. „Es hilft sicher, sich mit einem Profi darüber zu unterhalten, doch am Ende musst du selbst da durch. Es gibt kein spezielles Heilmittel, du musst die Entscheidung selbst treffen. ‚You have to figure it out on your own.‘“

Ihre Entscheidung beschreibt sie als Prozess mit „vielen unterschiedlichen Emotionen“, der über die Rückenschmerzen und lange Verletzungspausen bis hin zu Motivationsproblemen reichte. „Ich habe verschiedene Dinge ausprobiert, doch die Schmerzen kamen immer zurück – auch wenn ich nur ein Match gespielt habe. Ich hatte dann irgendwann das Gefühl, nicht mehr jedes Mal 100 Prozent geben zu können, wenn ich den Platz betrete.“ Die ehrgeizige Sportlerin tat sich schwer, mit der Situation umzugehen. „Ich spürte manchmal von Beginn an, dass ich ein Turnier nicht beenden kann. Es fiel mir schwer, mich zu motivieren. Auch weil ich das Gefühl hatte, nicht mehr um Titel mitspielen zu können.“

Ich habe am Anfang jedes Mal angefangen zu weinen, wenn ich darüber sprach

Anett Kontaveit, musste ihre Profikarriere mit 27 beenden

Es kam schließlich der Tag, an dem sie die lebensverändernde Entscheidung mit der Welt teilte – anhand eines Instagram-Beitrags. „Hi, Freunde, heute verkünde ich, dass ich meine Karriere als Leistungssportlerin beende“, schrieb sie am 20. Juni 2023. Die Anteilnahme ihrer ehemaligen Gegenspielerinnen war groß. „Natürlich hat mich das gefreut“, sagt sie. Es habe den Abschied allerdings auch erschwert. „Als ich es laut ausgesprochen hatte, musste ich mir erst einmal Zeit nehmen, meine Entscheidung auch zu akzeptieren. Heute habe ich meinen Frieden damit geschlossen. Ich bereue es nicht, weil ich weiß, dass es die richtige Entscheidung für meinen Körper war. Mein Karriereende war unvermeidlich.“

Im Juli 2023 bestritt sie schließlich in Wimbledon ihr letztes Match auf der großen Tennis-Bühne. Sie brauchte danach Abstand, nahm während zwei Monaten keinen Schläger mehr in die Hand. „Ich habe weiter Sport gemacht, in Form von Fitnessübungen. Aber ich brauchte eine Pause vom Tennis.“ Der Abstand half ihr, mit der Situation klarzukommen und sie zu akzeptieren. Zwar denkt sie auch heute noch jedes Mal, wenn sie sich ein Match anschaut, an ihre Zeit auf der Profibühne zurück. Mittlerweile kann sie sich aber nicht mehr vorstellen, zurückzukehren.

Psychologiestudium

 Foto: Editpress/Fernand Konnen

„Ich war in den letzten Monaten sehr beschäftigt, sodass ich nicht viel Zeit hatte, darüber nachzudenken“, erzählt Kontaveit. Sie hat begonnen, Vollzeit Psychologie an der Indiana University, USA, zu studieren und geht zweimal täglich ins Fitnessstudio. „Da mir so nicht viel Zeit bleibt, über die ganze Sache nachzudenken, läuft es im Moment gut. Vielleicht ändert sich das noch, wenn ich erst einmal den kalten Winter in Estland durchstehen muss“, erzählt sie mit einem Lächeln. 

Beim Wechsel vom Profi- ins normale Leben hilft ihr das Psychologiestudium. Begonnen hatte Kontaveit dieses schon 2020 auf Teilzeitbasis. „Während des Covid-Lockdowns konnte ich kein Tennis spielen. Ich habe in dieser Zeit angefangen, darüber nachzudenken, was ich einmal nach dem Tennis machen will.“ Bei einem Online-Vortrag entdeckte sie die Psychologie für sich. „Sie hilft mir, mich selbst besser zu verstehen“, sagt sie. Da die Tennisorganisation WTA eine Partnerschaft mit der Indiana University hat, entschied sich Kontaveit damals, ein zweites Standbein neben dem Tennis in ihrem Leben aufzubauen, um einen Plan B zu haben. Sie brauchte diesen schneller als gedacht. 

Steckbrief

Anett Kontaveit
Geboren am
24. Dezember 1995 in Tallinn (EST)
Bestes Ranking: 2 (Juni 2022)
Karrieretitel: 6 WTA, 11 ITF (im Einzel)
Preisgelder: 8.149.707 $


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– Sportpsychologe Frank Muller: „Vor allem wegen des Stigmas reden Sportler nicht gerne über mentale Probleme“

Die Tageblatt-Serie „Kopfsache“

Mentale Probleme sind zwar in der allgemeinen Gesellschaft mittlerweile etwas enttabuisiert – doch gerade im Profisport sieht das oft noch anders aus: Mit etwas nicht klarzukommen, wird oft als Schwäche gewertet – in einem Business, in dem man keine Schwächen zeigen darf. Problematisch sind vor allem mangelnde Aufklärung oder die fehlende Sensibilisierung von Funktionären, Sponsoren oder den Medien. In der Tageblatt-Serie „Kopfsache“ sprechen nicht nur Sportler über das sonst so sensible Thema. Auch andere Experten sprechen über verschiedene Aspekte des Mentalen im Sport – vom Umgang mit Depressionen bis hin zu Methoden zur Leistungsoptimierung.

26. Oktober: Ehemalige Fußball-Nationalspielerin Kim Olafsson
2. November: Sportpsychologe Frank Muller
9. November: Ehemalige Tennisspielerin Anett Kontaveit
16. November: Basketball-Nationalspielerin Joy Baum
23. November: Judoka Claudio Dos Santos
30. November: LIHPS-Direktor Alwin de Prins 
7. Dezember: Psychologen des LIHPS in der Diskussion