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Soziale Zeitbombe

Soziale Zeitbombe
(dpa-Archiv)

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Was ist „sozial schwach“? Was nicht? Und wo liegt die Grenze zwischen beiden „Kategorien“? Mit diesen Fragen haben wir uns vor zwei Wochen im Zusammenhang mit der Neuregelung der "chèques service" befasst.

Wohlwissend, dass es keine genaue, klare und allgemein gültige Antwort auf diese Fragen geben kann. Denn neben einigen objektiven Elementen spielen nämlich diesbezüglich vor allem subjektive, von den jeweiligen Erfahrungen und dem eigenen Umfeld abhängige Faktoren eine zentrale Rolle.

Tom Wenandy twenandy@tageblatt.lu

Ob ein Haushalt mit einem gewissen Einkommen über der statistischen Armutsgrenze liegt, lässt sich zwar genau bestimmen, aussagekräftig darüber, wie es der Familie vor allem finanziell geht, ist der theoretische Wert aber nur bedingt.

Sicherlich gibt es Familien bzw. Personen, die eigentlich bzw. theoretisch unter Berücksichtigung möglichst vieler Elemente über ausreichend finanzielle Mittel verfügen, es trotz allem nicht schaffen – vor allem aufgrund ihres unangepassten Konsumverhaltens –, „über die Runden“ zu kommen. Diese Menschen, die über ihre Verhältnisse leben, zu verurteilen, wäre (meistens) zu einfach, schließlich ist der „korrekte“ Umgang mit Geld nicht angeboren und muss erst einmal erlernt werden (was voraussetzt, dass ein „Lehrer“ präsent ist). Zudem ist es in einer Gesellschaft, in der auch die Politik das Prinzip Wachstum (in all seinen Schattierungen) über alles hebt, kaum verwunderlich, wenn Menschen dem nacheifern.

Aber eben nicht alle Menschen kommen „aus eigenem Verschulden“ in eine finanzielle und damit über kurz oder lang unweigerlich verbundene soziale Schieflage. Fakt ist, dass es im Vergleich zu den vergangenen zwei, drei, vier Jahrzehnten heute immer mehr Menschen gibt, die Probleme haben, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln auszukommen.

Ein neueres Phänomen ist dabei, dass immer mehr auch ein Teil der Mittelschicht betroffen ist. Menschen, die zumeist aus „sicheren“ Verhältnissen stammen und gut ausgebildet sind.

Diese Attribute sind heutzutage aber einfach nicht mehr der Garant für eine materiell sichere Zukunft. Der soziale Abstieg kann jeden in der bis vor kurzem auch sicher geglaubten Mittelklasse unverblümt und mit einer kaum vorstellbaren Rasanz treffen.

„So ist es halt“

Irgendwie könnte man sich mit dieser Entwicklung – die einen leichter als die anderen – noch abfinden. Nach dem Motto: „So ist es halt. Zeiten ändern sich. Es kann nicht immer nur nach oben gehen.“

Allerdings muss die Frage erlaubt sein, warum es für eine Mehrheit nach unten geht oder im besten Fall stagniert, während einige wenige dennoch weiter nach oben streben können. Unaufhaltsam. Oder besser gefragt: Warum unternimmt niemand etwas, um die Öffnung dieser sozialen Schere zu bremsen und (auch auf finanzieller Ebene) für mehr Chancengleichheit bzw. Chancengerechtigkeit einzutreten.

Dieser auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit den leider schon begrifflich abgenutzten sozialen Frieden sehr gefährlichen Entwicklung müsste die Politik gegensteuern. Uns scheint, eine entsprechende zweckgebundene Umverteilung ist sogar die Hauptaufgabe der Politik. Seit geraumer Zeit scheint diese aber (bewusst oder unbewusst) nur zuzuschauen.

Ein Instrument, wenn nicht das Hauptinstrument, um regulierend einzugreifen, wäre die Steuerpolitik. Doch dieses Instrument wird allen voran von Premier Juncker immer wieder mit immer den gleichen (nicht überprüfbaren und undetaillierten) Beispielen als gerechter als gerecht dargestellt. Und ist damit – zumindest für die Regierung – vom Tisch. Dass hierzulande aber die Lohnsteuertabelle, so, wie sie sich aktuell darstellt, alles andere als gerecht ist, und dass zudem nicht-lohnbedingte Einkommen im Verhältnis zu Löhnen und Gehältern eindeutig unterbesteuert sind – von der niedrigen Betriebsbesteuerung einmal ganz abgesehen, wird gerne verschwiegen.

Die aktuelle Entwicklung scheint demnach gewollt. Die Reichen werden immer reicher (und sind daher verständlicherweise sehr diskret), die „sozial Schwachen“, die immer schwächer bzw. immer mehr werden, hält man mit Sozialleistungen mehr oder weniger bei der Stange. Wenn man an diesem System nicht grundlegend etwas ändern will, dann darf man – die führenden Politiker und deren Wähler gleichermaßen – sich nicht wundern, wenn die sozialen Konflikte zusehends härter und zahlreicher werden.