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InterviewGerald Knaus, der „Architekt“ des EU-Türkei-Deals, über europäische Fahrlässigkeit, türkische Abhängigkeit und schnelle Lösungen

Interview / Gerald Knaus, der „Architekt“ des EU-Türkei-Deals, über europäische Fahrlässigkeit, türkische Abhängigkeit und schnelle Lösungen
An der Grenze gehen griechische Polizisten gewaltsam gegen Migranten und Flüchtlinge vor, denen die Türkei zuvor erzählt hatte, der Weg in die Europäische Union sei frei Foto: AFP/Bulent Kilic

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Gerald Knaus gilt als „Architekt“ des Abkommens zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Dieses scheint seit zehn Tagen Geschichte zu sein. Zu Beginn des Monats öffnete die Türkei ihre Grenze für Flüchtlinge. Für Europa bedeutet das keine neue Migrationskrise, sondern eine moralische Krise. Die Zustände an der Grenze sind grauenhaft, die auf den Inseln der Ägäis auch. Der Soziologe Knaus plädiert für eine Rückkehr zum Abkommen, alles andere wäre weitere „strategische Blindheit“.

Tageblatt: Mit seiner Grenzöffnung sei Recep Tayyip Erdogan verantwortlich für die Lage an der griechisch-türkischen Grenze, wo tausende Menschen in falscher Hoffnung versuchen, nach Europa zu gelangen. Sagt die EU. Der türkische Präsident sieht das anders und sagt, Brüssel habe seine finanziellen Versprechen nicht eingehalten. Wer hat also hier was „aufgekündigt“, wie es immer heißt?

Gerald Knaus: Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei ist eine für beide Seiten rechtlich unverbindliche Absichtserklärung. „Aufkündigen“ kann man die nicht. Darin steht vor allem, wann wie viel Geld investiert werden soll, zweimal drei Milliarden Euro in einem Zeitraum von vier Jahren. Die Türkei hat damals darauf gedrungen, dass das Geld schnell ausgegeben wird. Eine Lehre aus früheren Erfahrungen mit der EU, wo es öfter länger dauert, bis das Geld tatsächlich fließt. Dort beginnt das erste Missverständnis zwischen Erdogan und der Kommission. Erdogan sagt, das Geld kam nicht. Die Kommission aber sagt, sie habe alles gemacht, was bis 2019 und demnach innerhalb der vier Jahre angekündigt war. Das ganze Geld sei zugewiesen, also verplant worden.

Nun gut, aber wer von beiden hat recht?

Geflossen ist das Geld noch nicht. Die sechs Milliarden sind verplant, geflossen sind etwas mehr als drei Milliarden.

Hat das Abkommen überhaupt etwas gebracht?

Es gibt zwei Zahlen, die den Einfluss dieser Erklärung deutlich machen: In den ersten zwölf Monaten vor dem März 2016 kamen eine Million Menschen über das Mittelmeer auf die Ägäischen Inseln. In den zwölf Monaten danach waren es nur noch 26.000. Die zweite Zahl: In den zwölf Monaten davor sind über 1.100 Menschen in der Ägäis ertrunken, im Jahr danach waren es ungefähr 80.

Das war für die EU eine Erleichterung, aber was hat die Türkei davon gehabt?

Das ist in der Tat die Grundsatzfrage, immerhin hat die Türkei mit einer bloßen Presseerklärung der EU geholfen, das mächtigste Migrationskontrollinstrument der letzten Jahre zu schaffen. Schaut man sich alle Punkte an, die der Türkei versprochen wurden, dann sind nur eineinhalb passiert. Der halbe Punkt ist die Umsiedelung aus der Türkei. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sagte damals zu Erdogan, die EU könne in einem geordneten Verfahren mehr als 100.000 Leute aus der Türkei im Jahr aufnehmen. Das wurde aber nie aufgeschrieben – und im Endeffekt waren es 25.000 Syrer in vier Jahren. Das Einzige, was die Türkei wirklich hatte, war das Geld, das allerdings extrem wichtig ist.

Und jetzt hatte Erdogan Sorgen, dass dieser Geldfluss versiegt?

Weder der Europäische Rat noch die Europäische Kommission haben in den vergangenen Monaten ein Zeichen gegeben, mit der Türkei über eine Verlängerung reden zu wollen. Damit wurde der mächtigste Einfluss der EU auf die Türkei, nämlich die eigentliche Abhängigkeit der Türkei von diesem Abkommen, fallen lassen. Einfach fahrlässig.

Trotzdem vermitteln viele europäische Politiker den Eindruck, von Erdogan überrumpelt worden zu sein …

Aber das ist falsch. Erdogan droht seit einem Jahr, immer wieder. Allerdings stimmt es, dass diese Drohungen, solange die Türkei von der EU Unterstützung bekam, nur Bluff sein konnten, weil die Türkei eben von der EU abhängt. Geschätzte 3,5 Millionen Syrer sind in der Türkei, die Infrastruktur, die es dafür braucht, die Schulen, die Spitäler, alles, was da gebaut werden muss, kostet sehr viel Geld. Dazu steckt die Türkei in einer wirtschaftlichen Krise und auch der innenpolitische Druck auf Erdogans AKP-Partei ist gewachsen.

Haben Europas Politiker nicht verstanden, wie wichtig dieses Geld für die Türkei ist?

Das ist eigentlich kaum vorstellbar. Bei der Türkei-Hilfe handelt es sich um die größte Unterstützung in einem Drittstaat in der Geschichte der EU. Das Leben von 1,7 Millionen Syrern wurde finanziert, 500.000 syrische Kinder konnten in die Schule gehen. Die Türkei konnte vier Prozent ihrer Bevölkerung, eben jenen Anteil, den die Syrer ausmachen, tatsächlich integrieren. Diese Menschen lernen jetzt Türkisch, haben die Möglichkeit einer Zukunft in der Türkei – und das ist ebenfalls für die EU extrem wichtig. Genauso wichtig wie es ist, dass sich die Stimmung in der Türkei nicht dreht.

Was aber gerade zu geschehen scheint. Woher kommt denn diese, wie Sie es nennen, Fahrlässigkeit?

Eine gewisse Arroganz spielt mit rein, nach dem Motto: Schauen wir mal, ob das auch so klappt mit den Türken. Dazu sind die Finanzdiskussionen in der EU kompliziert und einige Länder mögen sich gedacht haben, wir sind eh nicht betroffen. Im EU-Haushaltsvorschlag wird viel über Frontex und Migration und Grenzschutz geredet, aber die effizienteste Maßnahme zur drastischen Senkung irregulärer Migration kommt darin nicht vor. Dabei hat die EU das noch als EU finanziert, alle Länder gemeinsam und solidarisch. Und die Maßnahme galt dem Land, das weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat und das auch noch an die EU grenzt. Das ist eine strategische Blindheit dramatischen Ausmaßes.

Kritiker würden jetzt einwenden, dass auf einen Autokraten wie Erdogan sowieso kein Verlass sein könne. Die Entscheidung aus Ankara, die Grenzen zu öffnen und Flüchtlinge und Migranten als Verhandlungsmasse in diese Auseinandersetzung zu werfen, kam im Endeffekt ja trotzdem überraschend. War das wirklich so strategisch gedacht von Erdogan oder nicht doch eher eine Überschussreaktion?

Natürlich gab es noch den konkreten Anlass der Tötung von Dutzenden türkischen Soldaten und die Angst vor dem Kontrollverlust in Idlib, was dazu geführt hat, dass Erdogan an dem Samstag angekündigt hat, so, jetzt reicht es. Aber hätten wir vor drei Monaten aus europäischem Interesse an einer Verlängerung das Geld auf den Tisch gelegt, wäre diese Krise vermeidbar gewesen.

An der griechischen Grenzen haben wir jetzt Dinge gemacht, von denen hat US-Präsident Donald Trump an der mexikanischen Grenze nur träumen können

Zurzeit werden in Griechenland die Menschenrechte für die Grenzsicherung geopfert, das Asylrecht wurde ausgesetzt, es gab Verletzte und wohl auch Tote. Die EU stellt sich geschlossen hinter die Griechen, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach gar vom „Schutzschild“ Europas. Läuft da nicht gerade etwas gewaltig schief mit dem Wertekompass der EU?

An der griechischen Grenzen haben wir jetzt Dinge gemacht, von denen hat US-Präsident Donald Trump an der mexikanischen Grenze nur träumen können. Das Asylrecht auszusetzen und Menschen ohne jedes Verfahren über die Grenze zurückzutreiben, ist ein drastischer Einschnitt. Aber auch das wird auf dem Meer nichts nützen – und die Mehrheit der Menschen fährt auch jetzt noch über das Meer. Dort brauchen wir die Kooperation mit der Türkei, außer Griechenland beziehungsweise die EU verhält sich wie das thailändische Militär, das die Boote mit Rohingya-Flüchtlingen wieder aufs Meer hinaustreibt. Das wäre das endgültige Ende der Menschenrechts- und Flüchtlingskonvention – was wir 1951 nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg in Europa beschlossen haben, würde 2020 in der Ägäis ertrinken.

Das Vorgehen der griechischen Grenzschützer schockiert natürlich. Andererseits wurden die Griechen lange auf ihren Problemen sitzen gelassen. Wie müsste die EU den Griechen helfen?

Alle zeigen volle Solidarität gegenüber den Griechen, nehmen ihnen aber keinen einzigen Flüchtling ab. Was wir brauchen, ist ein Gesamtpaket, drei Punkte, und das sofort. Ich bin mit allen Seiten im Gespräch, unser Vorschlag lautet: Erstens die Zusage der EU, mit der gleichen Summe die nächsten fünf Jahre zu finanzieren. Mit dem gleichen Zweck der Unterstützung von Syrern und Gemeinden, in denen die Syrer leben. Zweitens sollte die Türkei das Abkommen wieder umsetzen. Und die EU sollte drittens den Griechen helfen, die Menschen von den Inseln zu evakuieren. Das Relocation-Programm, das in eineinhalb Jahren von Mitte 2016 bis Ende 2017 über 20.000 Menschen aus Griechenland in die EU gebracht hat, so ruhig und geordnet, dass sich keiner mehr dran erinnert, sollte wieder aufgegriffen werden. Damit die Griechen nicht das Gefühl haben, völlig alleine dazustehen.

Am Ende ist es aber immer nur eine kleine Koalition der Willigen, die noch Menschen aufnimmt. Das war bei der Seenotrettung so, das ist jetzt wieder der Fall. Kann den Griechen so glaubhaft vermittelt werden, auf Hilfe zählen zu können?

Die Verteilung der Menschen aus Griechenland und aus der Türkei sollte die Kommission bezahlen, aber das wird eine Koalition der Willigen bleiben, da wird es nie eine Einstimmigkeit geben. Die Umverteilung sollte als ein Aspekt innerhalb einer kohärenten Strategie, irreguläre Migration wieder zu kontrollieren, vermittelt werden. 2017 hatten wir zwei Dinge gleichzeitig: das Relocation-Programm sowie das Türkei-Abkommen – und es kamen weniger Menschen über das Meer als jemals zuvor. Das heißt: Es gab keinen Pull-Effekt, die Umsiedelung vom Festland hat nicht dazu geführt, dass mehr Menschen kamen. So müsste die Kommission das jetzt den Mitgliedstaaten präsentieren: Dass es darum geht, die nächsten fünf Jahre dauerhaft die irreguläre Migration drastisch zu senken, ohne die Menschenrechte aufzuheben. Damit ließe sich das Thema auch aus der Politik herausbringen, wie es 2017 ja schon einmal gelungen ist. Dann würden sich, glaube ich, mehr Länder anschließen.

Auch auf Initiative des Luxemburger Außenministers Jean Asselborn hin haben sich fünf EU-Staaten zusammengerauft und einen Minimalkonsens beschlossen, demzufolge rund 1.500 Kinder und unbegleitete Jugendliche aus Lagern von den griechischen Inseln in diese Staaten gebracht werden. Wie bewerten Sie dieses Handeln?

Das ist eine extrem wichtige Geste, aber es ist noch keine Politik. Es ist eine Geste, auf die sofort die beiden nächsten Schritte folgen müssen. Der erste: Wir müssen den Griechen sagen, sofort alle Kinder und Familien mit Kindern auf das Festland zu bringen und sie dabei unterstützen. Es muss möglich sein, diese Leute menschenwürdig unterzubringen. Das ist eine Frage des Willens. Zweitens müssen wir dann vom Festland wieder mit dem beginnen, was wir 2016, 2017 gemacht haben: Die Griechen entlasten und Flüchtlinge aufnehmen.

Der Österreicher Gerald Knaus ist Soziologe, Migrationsforscher und Mitbegründer sowie Vorsitzender der Denkfabrik European Stability Initiative (ESI) und macht sich seit Jahren stark für den Flüchtlingspakt zwischen der Türkei und der EU
Der Österreicher Gerald Knaus ist Soziologe, Migrationsforscher und Mitbegründer sowie Vorsitzender der Denkfabrik European Stability Initiative (ESI) und macht sich seit Jahren stark für den Flüchtlingspakt zwischen der Türkei und der EU Foto: dpa/ESI
Sewsweet
12. März 2020 - 7.10

How about the US paying for it all since they caused the war in Iraq and the refugees?