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InterviewPolitikwissenschaftler Daniel Schmit im Interview:„Das Wahlsystem ist eine heikle Angelegenheit“

Interview / Politikwissenschaftler Daniel Schmit im Interview:„Das Wahlsystem ist eine heikle Angelegenheit“
Dan Schmit (30) ist Stipendiat des Lehrstuhls für parlamentarische Studien der Luxemburger Abgeordnetenkammer Foto: Editpress/Julien Garroy

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Die Aufteilung Luxemburgs in vier Wahlbezirke wurde im Rahmen der Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Jahr 1919 beschlossen. Seit Jahrzehnten schon steht das Wahlsystem wegen mutmaßlicher Ungerechtigkeiten in der Kritik. Zuletzt war die Diskussion über die Einführung eines einheitlichen Wahlbezirks einer der Hauptgründe für das Scheitern der großen Verfassungsrevision. Der Forscher und Politikwissenschaftler Dan Schmit erklärt, wieso die Reform des Wahlsystems so lange dauert und welche Alternativen zu den vier Bezirken existieren.

Tageblatt: Seit Jahrzehnten wird – meist nach den Parlamentswahlen – über die Ungerechtigkeiten des Luxemburger Wahlsystems diskutiert. Die Debatte dreht sich vor allem um die vier Wahlbezirke, an der nun auch die große Verfassungsreform wohl gescheitert ist. Worum geht es dabei genau?

Dan Schmit: In letzter Zeit wurde hauptsächlich darüber diskutiert, ob es noch zeitgemäß ist, ein Gebiet von der Größe Luxemburgs in vier Wahlbezirke einzuteilen. Werden dadurch gewisse Sperrklauseln eingeführt, ohne dass sie offiziell existieren? Denn je kleiner der Bezirk, desto höher der Stimmenanteil, den eine Partei für einen Sitz benötigt. Auf der einen Seite sieht man, dass es für kleine Parteien dadurch schwieriger wird, einen Sitz zu gewinnen. Auf der anderen Seite bekommen größere Parteien proportional mehr Sitze, als ihnen ihrem Stimmenanteil nach theoretisch zustehen würden.

Mit der aktuellen Berechnungsformel sind große Parteien in den kleinen Bezirken klar im Vorteil

Dan Schmit, Politikwissenschaftler

Bis Ende der 1980er Jahre wurde die Zahl der Mandate in den jeweiligen Bezirken an die Zahl der Einwohner angepasst. Obwohl die Bevölkerung seitdem stark gewachsen ist, wurde diese Anpassung abgeschafft. Wieso?

Seit den 80er Jahren ist der Anteil der Nicht-Luxemburger stark gestiegen. Über die Anpassung der Sitzanzahl wird aktuell wieder diskutiert. Die politische Frage ist, ob die Zahl der Einwohner oder die Zahl der Wähler als Berechnungsgrundlage für diese Anpassung genommen wird. In diesem Punkt gehen die Ansichten auseinander. Repräsentieren die Abgeordneten die Wähler oder repräsentieren sie die ganze Bevölkerung?

Welche Auswirkungen hätten die jeweiligen Berechnungsgrundlagen?

Würde man die Gesamtbevölkerung als Grundlage nehmen, würde sich nicht so viel ändern. Würde man die Wahlbevölkerung der Berechnung zugrunde legen, wären der Ost- und der Nordbezirk aktuell etwas unterrepräsentiert, während der Zentrumsbezirk mit der Hauptstadt, wo der Anteil der Nicht-Luxemburger überdurchschnittlich hoch ist, überrepräsentiert wäre.

Welche Parteien profitieren am meisten vom aktuellen Wahlsystem?

Bei den Parlamentswahlen 2018 hat die CSV am meisten Stimmen verloren. Bei der Sitzverteilung ist die Partei aber gut davongekommen. Im Vergleich dazu hat die LSAP zwar weniger Stimmen, aber dafür mehr Sitze verloren. Mit der aktuellen Berechnungsformel sind große Parteien in den kleinen Bezirken klar im Vorteil.

Das Wahlsystem ist eine heikle Angelegenheit. Schließlich geht es um die Regeln, nach denen die Volksvertreter gewählt werden. Gleichzeitig sind es dieselben Volksvertreter, die über die Spielregeln für ihre Wahl bestimmen.

Dan Schmit, Politikwissenschaftler

Wieso werden diese Ungerechtigkeiten im Wahlsystem nicht beseitigt?

Es ist wie so oft im politischen Bereich. Man ist sich einig über die Probleme, aber nicht über die Lösungen. Das Wahlsystem ist eine heikle Angelegenheit. Schließlich geht es um die Regeln, nach denen die Volksvertreter gewählt werden. Gleichzeitig sind es dieselben Volksvertreter, die über die Spielregeln für ihre Wahl bestimmen. Das heißt, man muss darauf achten, dass es nachher nicht so aussieht, als ob man die Regeln so macht, dass sie einem entgegenkommen. Ferner profitieren die großen Parteien ja noch von dem aktuellen System, deshalb ist ihr Anreiz, etwas daran zu ändern, geringer. Dabei sind es gerade diese Parteien, die benötigt werden, um eine Mehrheit im Parlament zu erzielen, damit Änderungen überhaupt möglich sind.

Welche Alternativen gibt es zu dem aktuellen Wahlsystem?

Es gibt Modelle mit einem, zwei, vier und sogar noch mehr Wahlbezirken. Im Endeffekt ist es eine politische Frage. Eine Möglichkeit wäre, die Wahlbezirke beizubehalten oder umzugestalten, aber nur noch einen bestimmten Prozentsatz an Sitzen auf Bezirksebene zu verteilen. Um die Proportionalität insgesamt zu erhalten, würden die restlichen Sitze auf nationaler Ebene vergeben. Das wäre eine hybride Lösung, die einerseits eine gewisse regionale Nähe beibehalten und andererseits eine nationale Proportionalität gewährleisten würde. In Dänemark existiert bereits ein ähnliches System.

Zuletzt wurde in Luxemburg vor allem über einen einheitlichen Wahlbezirk diskutiert. Welche Schwierigkeiten stellen sich bei dem Modell?

Die Wahlbezirke abzuschaffen und das aktuelle Wahlsystem beizubehalten, könnte zu einer großen Herausforderung werden. Mit 60 Abgeordneten und zehn Parteien hätten wir 600 Kandidaten auf dem Wahlzettel. Wäre das Panaschieren weiterhin möglich, würde sich niemand mehr zurechtfinden. Wer kann schon 600 Kandidaten voneinander unterscheiden? Das Risiko, den Überblick zu verlieren, würde steigen und die Zahl der ungültigen Wahlzettel würde sich wohl stark erhöhen. Wenn wir einen einheitlichen Wahlbezirk einführen, müssen wir die Art und Weise, wie gewählt wird, einschränken. Zum Beispiel könnte der Wähler seine Präferenzen nur noch zu Kandidaten innerhalb einer Liste ausdrücken. Das „Panachage“-System, das wir jetzt kennen, wäre unter diesen Umständen nur noch schwer vorstellbar.

Kritiker bezeichnen das Panaschieren als undemokratisch, weil es Amtsträger und bekannte Kandidaten bevorteilt. Ist dieses System noch zeitgemäß?

Historische Analysen über die Entwicklung der Wahlsysteme in den letzten Jahren haben gezeigt, dass es eher in die Richtung geht, dass die Wähler nicht nur Parteien, sondern auch verstärkt Köpfe innerhalb dieser Parteien wählen können. In dieser Hinsicht ist das Luxemburger Wahlsystem eines der am stärksten personalisierten Systeme überhaupt. Deshalb ist es schwer vorstellbar, dass Luxemburg nun gegen diesen Trend hin zur Personalisierung vorgehen würde.

Versperrt dieses System nicht gerade jungen Kandidaten die Aussicht auf einen Wahlerfolg?

Es gibt unterschiedliche Modelle. Bei den einen entscheidet die Partei, an welchen Kandidaten auf ihrer Liste die Sitze gehen. Bei uns entscheidet der Wähler über die Rangordnung. Und dann gibt es noch Modelle dazwischen. Wenn die Partei über den personellen Aufbau entscheidet, kann sie selbst über ihre Erneuerung bestimmen. Bei uns können die Parteien diesen Einfluss hingegen nur bei der Auswahl der Kandidaten ausüben. In unserem Wahlsystem haben politische Amtsinhaber einen klaren Vorteil. In dem Sinne ist es natürlich schwieriger für junge Politiker, sich zu behaupten. Umso mehr sind die Parteien gefordert, um dafür zu sorgen, dass ihre jungen Kandidaten besser gefördert und sichtbarer werden.

Wie könnte das gehen?

Die Parteien müssten konsequenter in den Aufbau und die Fortbildung von Nachwuchspolitikern investieren. Bei unserem Wahlsystem stellt das natürlich ein Risiko dar, weil schließlich aber der Wähler entscheidet, wer ihm am besten gefällt. So könnte es passieren, dass die Rechnung nicht aufgeht und, entgegen der Erwartungen, ein Parteirebell am Ende das Rennen macht.

Ist die Repräsentativität der Bevölkerung im Parlament mit dem aktuellen Wahlsystem gewährleistet?

Im Hinblick auf die Repräsentativität stellen sich zwei Probleme. Das erste ist die Wählerschaft, in der der Anteil an Staatsbeamten weitaus höher ist als in der Gesamtbevölkerung und in der die Arbeiter klar unterrepräsentiert sind. Zweitens spiegelt sich dieses Verhältnis auch bei den Gewählten wider. Dieses Ungleichgewicht hängt aber weniger mit dem Wahlsystem als mit der Zusammensetzung der Wählerschaft in Luxemburg zusammen.

Beim Referendum von 2015 lehnte die Mehrheit der Luxemburger die Einführung des Wahlrechts für Nicht-Luxemburger, eine Begrenzung der Mandatsdauer und das Wahlrecht ab 16 Jahren ab. Hätte diese Öffnung mehr Repräsentativität gebracht?

Wir wissen es nicht genau. Wir verfügen über bestimmte Daten, die aber keine eindeutige Richtung anzeigen. Insgesamt sieht es nicht so aus, als ob die Öffnung der Wählerschaft das Kräfteverhältnis zwischen den Parteien grundlegend verändern würde. Der Einfluss auf die Dynamik innerhalb der Parteien ist schwer vorauszusagen.

Die Häufung der Mandate steht ebenfalls zur Diskussion. Welche Auswirkungen könnte die Abschaffung der Doppelmandate haben?

Die Trennung der Mandate hätte natürlich einen deutlichen Einfluss auf das bestehende politische Personal. Ob sie die Zusammensetzung der Wahllisten verändern würde, steht auf einem anderen Blatt. Die Kandidaten können sich ja noch immer zur Wahl stellen. Die Frage ist, welche Entscheidung sie nach den Wahlen treffen. Bleiben sie in ihrer Gemeinde oder gehen sie ins Parlament? Vieles hängt auch davon ab, ob die Mandatstrennung nur für Schöffen und Bürgermeister oder ebenfalls für Gemeinderatsmitglieder gelten wird.

Eine Reform des Wahlsystems kann nur über eine Verfassungsänderung beschlossen werden. Diese Prozedur ist langwierig und erfordert eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Ist es Ihrer Ansicht nach sinnvoll, das Wahlsystem aus der Verfassung herauszunehmen, um Änderungen zu vereinfachen?

Das Wahlsystem ist stabiler, wenn es nur mit qualifizierten Mehrheiten geändert werden kann. Dadurch kann verhindert werden, dass jede politische Mehrheit das Wahlgesetz zu ihren Gunsten anpassen kann, und es schränkt die Versuchung ein, Wahlziele mit kurzfristigen Gesetzesänderungen zu erreichen. Meiner Ansicht nach müsste man aber darüber diskutieren, wie man mehr Bürgerbeteiligung erreichen kann, um das Problem zu lösen.

Wie könnte eine solche Bürgerbeteiligung aussehen?

Man könnte zum Beispiel 50 bis 100 Bürger zu Foren einladen, um mit ihnen über das Wahlsystem zu diskutieren. Zusammen mit Experten könnten sie einen Vorschlag ausarbeiten, mit dem das Parlament sich anschließend auseinandersetzen muss. Das Element der Bürgerbeteiligung würde auch das Argument entkräften, dass die politischen Parteien Änderungen am Wahlsystem nur aus Eigennutz vornehmen.

Zur Person

Dan Schmit (30) ist Doktorand im Programm „European Governance“ an der Uni Luxemburg und Stipendiat des Lehrstuhls für parlamentarische Studien der „Chambre des députés“. Studiert hat er in England.

 Foto: Editpress/Julien Garroy

J.Scholer
6. Februar 2020 - 8.12

@Insterburg: Vor geraumer Zeitwurde in einer Studie der Luxemburger als Individualist bezeichnet. Liest man Ihren Kommentar und viele mehr wird diese These bestätigt. Treffend haben Ihre Namensvetter Insterburg& co haben diese individuelle Entwicklung brachial, aber treffend in ihrem Lied „ Das Schwein“ beschrieben. Respekt , Toleranz und das freiheitliche Denken anderer Menschen wird regelrecht niedergemacht „ wenn et mir net an den Krom passt , ass hien falsch an ech riichteg“. Sie zählen all die Vorteile auf die unsere heile Welt zu bieten hat , die Diskrepanz der Wohnungspreise, pochen auf moderne digitale Technologie,...Übrigens , haben auch letzte Studien bewiesen welch hohe CO2 Belastung ein Klick im Internet verursacht. Jedem etwas nachdenkenden Menschen müsste , dann wohl klar werden , wie er mit EBanking, Email und co sich am CO2 Ausstoß beteiligt und den Klimawandel beschleunigt. Haben diese Studien auch bewiesen , dass fossile Energie gleich digitale Technologie beim CO2 Ausstoß gleich liegen. Auch wenn wir aus dem Norden viele Projekte des Landes mitfinanzieren , besonders freue ich mich über den Vorstoß der Urban Art, wobei das Wort „ Urban“, „ fir mech net heescht , dat ech wéi an der Bronx , den net ménger Meenong ass mam Kneppel op den Kapp schloen „.Respekt , Toleranz sind die Basis demokratischer Denkweise und Zusammenlebens, Individualismus ist Anarchismus.

Insterburg
5. Februar 2020 - 18.01

@J.Scholer Wann een an d'Pampa wunne geet, da kann een och net reklaméieren, dass et ze wäit ass fir an d'Oper oder den Theater. Dofir sinn d'Bauplaze jo awer méi präiswäert, wann och mat Radon. An e puer Woche kënnt der gratis Zuch a Bus fueren. Den Zuch aus dem Norden léisst iech souguer am Pafendall eraus, mam Funiculaire sidd Der an enger Minutt hanner dem Theater fir d'Oper kucken ze goen. Wat d'Banken a Postämter ugeet, mir liewen am 3. Jordausend. D'Post bréngt Iech d'Päck bis an d'Gaardenhaischen, d'Rechnunge komme per Email, bei der Tankstell steet a Pakautomat an op d'Bank geet ee just nach wann een Dollaren oder Dänesch Kroune brauch.

J.Scholer
5. Februar 2020 - 17.11

@Insterburg:Weder bin ich Kirchgänger, noch Bauer, allerdings als an Politik interessierter Bürger , der sich dem fortschrittlichen Denken nicht verschliesst, stelle ich immer mehr fest, wie die Menschen im Norden hinten angestellt werden und ich verstehen kann „ sech als Mellechkouh vun der Natioun ze fillen“.Schäbiger den Umständen nicht angepasster Öffentlicher Transport, Verwaltung und Infrastrukturen ( Banken,Postämter,...) die abgeschafft oder zusammengelegt kilometerweit , ohne Auto nicht zu erreichen, als moderner Akt des Fortschritts verkauft werden. Vergleiche ich die Ansprüche des Minett, Zentrum in Punkto Kulturgeschehen , ist der Norden wie Osten Provinz, zu gelinde gesagt eher Wüste, erhalten diese Bürger nur die Krümel seitens unserer Politik.Ich könnte seitenweise fortfahren, doch wenn Sie meinen wir Hinterwäldler aus dem Norden würden den Fortschritt blockieren, liegen Sie falsch.“ Als aalen Minettsdapp hun ech hei am Norden méi fortschrettlech denkend, tolerant an mat Respekt geseenten Menschen begéint , wéi do Ennen. „ Fassaden täuschen, auch wenn sie bunt angemalt sind.

Insterburg
5. Februar 2020 - 9.20

Wenn endlich ein einheitlicher Wahlbezirk eingeführt wird, dann können die 1% Kirchgänger und Hobbybauern im Norden den fortschrittlichen Rest des Landes nicht mehr aufhalten.