Bei einer Übung wie dieser muss man sich immer ein bisschen in Acht nehmen davor, den ganzen Text nicht zu einer Aufzählung werden zu lassen. Ein Rückblick auf ein ganzes Jahr gerät sonst leicht zu einer Schreckensparade. Viel Gutes bleibt da selten hängen – was schade ist und der Sache auch nicht gerecht wird.
Im Frühjahr 2020 wurden wegen des Pandemiebeginns noch Waffenstillstände ausgerufen. Lange hielten sie damals nicht, aber es hatte diese gewisse Symbolik, als wolle sich die Welt zuerst mal um die wichtigen Sachen kümmern – in dem Fall die Bekämpfung einer Seuche statt eines menschlichen Feindes. Wie gesagt, das hielt nur kurz. Die Welt lässt sich von einem Virus nicht am Bekriegen und Unterdrücken und Verfolgen hindern. Diese Gewissheit ist zurück. Allerdings findet das, solange dieses elendige Virus unser aller Alltag beherrscht, alles kaum mehr Beachtung.
Auch 2021 hat Corona unsere Wahrnehmung infiziert. Belarus, Myanmar, Äthiopien, wen kümmert’s? Von den Palästinensern und den Flüchtlingen im Mittelmeer gar nicht mehr zu reden. Der Klimawandel regt nur solange auf, wie das Wasser im eigenen Land in den Kellern und Straßen steht. Und der Abzug aus Afghanistan hätte wohl auch nur die halbe Aufmerksamkeit bekommen, wäre er statt in einen recht sorgenfreien europäischen Sommer mitten in eine der Corona-Wellen gefallen.
Für Luxemburg bleibt der Blick zu den Nachbarn wichtig. Politisch und gesellschaftlich gesehen vor allem der nach Deutschland, wo eine neue Regierung übernommen hat, und Frankreich, wo kommendes Jahr gewählt wird. Der Blick nach Deutschland ist zurzeit der angenehmere. Während das gesammelte politische Personal Frankreichs immer weiter nach rechts abdriftet und der gesellschaftliche Diskurs zusehends verpestet wird, scheint Berlin einige Schritte weiter zu sein.
Die Ampel-Koalition geht eine hohe Wette ein. Sie verspricht eine Lösung für das Dilemma, das unsere Gesellschaften in den kommenden Jahren vor eine weitaus größere Zerreißprobe stellen dürfte, als die Corona-Krise das bereits jetzt tut – das Klima retten und gleichzeitig den Wohlstand bewahren. Schaffen Demokratien diesen Spagat nicht, könnten sie ausgedient haben.
In Europas Hauptstädten protestieren Menschen gegen die Demokratie, indem sie sie Diktatur nennen. Begriffe verlieren ihre Bedeutung.
Man kann also SPD, Grünen und FDP nur die Daumen drücken. Drei Parteien tun sich zusammen, verzichten jeweils auf viel. Aber sie tun dies in der Hoffnung, am Ende etwas zu erreichen, das auf Gesprächen und Kompromissen gründet. Man kann das hervorheben, denn das Gegenmodell wird beliebter. Chinas Erfolg hat die Diktatur wieder salonfähig gemacht.
Mit Corona ist alles noch einmal mehr durcheinandergeraten. In Europas Hauptstädten protestieren Menschen gegen die Demokratie, indem sie sie Diktatur nennen. So droht alles zu verschwimmen. Begriffe verlieren ihre Bedeutung. Auch deswegen braucht es in Zeitungen weiter Auslandsberichterstattung. Es braucht weiter Korrespondenten, die aus allen Ecken und Enden der Welt schreiben. Es braucht weiter Journalisten, die reisen und Geschichten mit nach Hause bringen. Und es braucht vor allem Leser wie Sie, die sich weiter dafür interessieren, was in der Welt passiert – weil sie wissen, dass es auch sie etwas angeht, dass es auch sie betrifft.
Wer weiß, was in der Welt vor sich geht und es korrekt einordnen kann, sollte ausreichend davor geimpft sein, gegen die „Diktaturen“ in Paris, Berlin, Brüssel oder London anzubrüllen. Wahrscheinlich ist ein solcher Dauer-Booster gegen Ignoranz auf lange Sicht wichtiger als die Immunisierung gegen das Coronavirus, die schlimmstenfalls die Omikron-Variante von selber übernehmen wird.
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