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Wenn Zahlen Waffen sind

Wenn Zahlen Waffen sind
(dpa-Archiv)

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Man unterscheidet nicht umsonst zwischen exakten und anderen Wissenschaften.

Die Mathematik ist eine exakte Wissenschaft, weil addierte, subtrahierte, multiplizierte und dividierte Zahlen immer zum selben Ergebnis führen.

Logo" class="infobox_img" />Alvin Sold asold@tageblatt.lu

Die Medizin ist keine exakte Wissenschaft, weil viele Faktoren, die über Krankheit und Genesung und letztlich über Leben und Tod entscheiden, nicht mit mathematischer Präzision errechenbar sind. So betrachtet, kann die Medizin in der Praxis nichts anderes sein als eine Quelle richtiger wie falscher Therapien.

Ähnliches gilt für die Wirtschaftswissenschaften. Auch sie gehören nicht in die exakte Kategorie, auch sie sind, zum großen Teil, spekulativ.

Laufend, unter Zeitdruck von provisorischen, nicht gesicherten Daten ausgehend, liefern sie den Politikern und den Spekulanten Munition für Gefechte auf dem ewigen Schlachtfeld der Umverteilung geschaffener Mehrwerte. Fällt die zweite BIP-Schätzung um 0,5% gegenüber der ersten Prognose, wittern die Business-Lobbys ein potenzielles Geschäft: Die Indexierung der Löhne muss weg, der Staat soll sparen, d.h. mit weniger auf dem Profit erhobenen Steuern auskommen; langfristig sollten alle Sozialleistungen, die an den Gewinnen knabbern, reduziert werden (Leute, stellt euch auf kleinere Pensionen ein, versichert euch doch privat!) usw., usf.

Man kennt die scharfen, den sozialen Abbau fordernden Kommuniqués der Patronatsverbände, welche die Gunst der Stunde nutzen. Sie haben die Politiker in die Ecke getrieben mit wirtschaftswissenschaftlichen Begriffen, die allesamt diskutabel sind, zuvorderst das berühmte Bruttoinlandsprodukt.

Gäbe es morgen keine Autounfälle mehr, keine gewaltigen Versicherungsschäden wegen Zahlungen an Kliniken und Werkstätten und Erben, fiele das BIP, welches nur die verrechneten Leistungen misst, nicht den sozialen, den gesellschaftlichen oder gar den ethisch-moralischen Schaden.

An diesem absurden Beispiel, das beileibe nicht alleine steht, wird der BIP-Fetischismus erkennbar. Man weiß natürlich in Regierungs- und Europakreisen, wie diskutabel die statistischen Erfassungen hier und dort sind, aber der kalte politische Wille, die Dinge so zu sehen, wie warmblütige Wirtschaftswissenschaftler es manchmal aufgeregt tun, besteht nicht.

Serge Allegrezza, der Chef des Luxemburger Statec, flippte in einem schwachen (oder starken?) Moment der Wochenzeitung Le Jeudi gegenüber am 21. Juni aus: „Je ne peux qu’éclater de rire lorsqu’on débat sur 1% ou 1,5% de croissance: tout cela, c’est de la connerie.“

Und weiter: „Un statisticien ne bute pas sur un intervalle tant que celui-ci reste dans l’intervalle de confiance. Une croissance de 1%, cela peut aussi être 1,6% ou être proche de la récession!“

Klartext: 1% Schätzung oder Prognose mögen 1,6 oder 0,4 sein: Darüber sind Statistiker sich einig.

Aber die führenden Politiker nicht.

Die verwerten die Schätzung und die Prognose im Sinne der dominanten Ideologie, die in Gelddingen für den europäischen Raum noch immer die neoliberale bleibt: Killt den Sozialstaat, schafft Freiraum fürs Geldverdienen, jeder sorge letztlich für sich selbst, das wäre gerecht, zum Teufel mit den Schwachen, die sowieso im Dschungel nicht überleben würden. Darwin!

Wenn die Medien den Weg ebnen

Darwin! Aber nicht sofort, nicht schnell, nicht zu schnell jedenfalls, flüstern die Berater. Es geschehe geschickt, in kurzen Schritten, auf die neo-europäische Art, jene, deren langer Arm immer weiter, immer tiefer ins Privatleben reicht, via Regel- und Verbotskonstrukte, gegen die man sich nirgends wehren kann, weil Zahlen ja zu Waffen wurden.

Vielleicht tragen die Medien an diesem Zustand, an dieser Entwicklung, die Hauptschuld. Sind es nicht sie, die den Austeritäts-Politikern, die man heutzutage so fromm Reformisten nennt, den Weg ebnen?

Wem gehören die weit reichenden Medien eigentlich? Wem sind die großen TV-Sender, die meinungsbildenden Zeitungen und Zeitschriften, die Radios, die Internetsites verpflichtet?

Wie steht es in Europa um die Unabhängigkeit der Presse vom Geld der Großkonzerne aus den Finanz- und Industriekreisen?

Schlecht, meinen wir. Sehr schlecht.