Aus Luxemburger Sicht, als erfahrener Kulturhauptstadtakteur, freut man sich zwar einerseits für all die fröhlichen Menschen auf den Straßen und denkt an die euphorische Stimmung zurück, die solch ein Megaevent auslösen kann, wird aber dennoch einen bitteren Beigeschmack nicht los.
Janina Strötgen jstroetgen@tageblatt.lu
Denn eines hat man nach zwei Kulturhauptstadtjahren auch gelernt: Kein Event – egal wie riesig, egal wie europäisch es auch sein mag – kann per se Kultur generieren. Keine neu geschaffene Infrastruktur – in Marseille für rund 680 Millionen Euro – ist Garant für Nachhaltigkeit. Dort, wo Kultur vor dem Kulturjahr kein Bestandteil des täglichen Lebens war, wird sie es auch nach dem Kulturjahr nicht sein.
Die europäische Kulturförderung in Ehren, doch sie krankt an einem Fehler. Ein Fehler, der sich in der Formulierung ihrer Ziele und Erwartungen an Kunst und Kultur zeigt. Ob direkt oder indirekt formuliert, die spendablen Geldgeber erwarten von Kunst und Kultur, dass sie einen entscheidenden Beitrag leisten: im Integrationsprozess der EU, in der Herausbildung eines so komplexen Gebildes wie der europäischen Identität und in der Stärkung europäischer Solidarität.
Das klingt alles sehr nobel, doch nach fast 30 Jahren Kulturhauptstadt-Brimbamborium (1985 ging das Programm mit Athen los) ist klar, dass der Glaube an eine nachhaltige Wirkung dieser Event-Kultur zwar gut gemeint, doch sehr naiv war/ist.
Inkompatibel, antikonform, contra
Diese Erkenntnis soll nun nicht heißen, dass Programme wie die europäischen Kulturhauptstädte eingefroren werden sollen. Doch muss sich Europa die Frage nach der Rolle seiner Kunst und Kultur immer wieder neu stellen. Gerade in Zeiten, in denen die Gesetze der Marktwirtschaft auch verstärkt die Kulturförderung bestimmen, in denen Künstler an ihrer Marktfähigkeit und an ihrer Vermittlerfunktion in Sachen Bildung und Integration gemessen werden, muss sich eine europäische Gegenkultur entwickeln. Eine Gegenkultur, die sich nicht an einer unmittelbaren Nützlichkeit misst.
Denn europäische Kultur ist mehr als die Bestätigung des Systems, das sie hervorbringt. Sie ist nicht nur Vermittler gemeinsamer Werte und Fürsprecher gemeinsamer Ziele. Eine Aufführung ist nicht zwangsläufig gut, weil sie grenzüberschreitend, multilingual und ach so „europäisch“ ist. Kapitalismus, Christentum, wirtschaftliche Expansion, Liberalismus und auch Entfremdung sind europäische Wertesysteme, denen nur eine auftragsfreie Kultur entgegenwirken kann. Ein Künstler ist auch Unruhestifter, Verstörter und Verstörer, Träumer und Spinner – mit der Lizenz zum Scheitern.
„Wir sind Gefangene sowohl unserer Kulturen als auch unserer Organisationsformen, und es gilt, danach zu suchen, ob es, wenn überhaupt, jenseits davon tiefere Wahrheiten gibt“, hat Eugène Ionesco in einem Gespräch mit dem Journalisten André Coutin die Rolle des Künstlers definiert. Er versah seine Stücke mit dem Untertitel „Anti-Stück“; war inkompatibel, antikonform, contra; bediente sich anarchischer Komik und ekstatischer Handlungen; Ionesco suchte nicht nach Sinn, sondern nach Unsinn. Und hat dadurch gemeinsam mit seinen Brüdern im Geiste die europäische Gesellschaft mindestens genauso stark geprägt wie das Brecht’sche Lehrtheater. Auch wenn dies erst Jahrzehnte nach Ionescos Tod so richtig erkannt wird. Nennt man so etwas nicht Nachhaltigkeit? Wie wäre es denn mit einer europäischen Anti-Kulturhauptstadt oder gar mit einer antieuropäischen Kulturhauptstadt? Die Bewerbungsfrist läuft. Unterstützung gibt es von der Fantasie und dem Rausch.
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