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Rotkäppchen-Syndrom

Rotkäppchen-Syndrom
(Tageblatt)

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Die einen kommen aus der Region jenseits der Karpaten. Wegen ihrer invasiven Natur stellen sie eine unzumutbare Konkurrenz für die lokalen Populationen dar.

Die anderen kommen aus Südeuropa über Frankreich zu uns, und ihre Bestände entwickeln sich offenbar äußerst dynamisch. Zudem würden ihre Konfliktpotenziale oft unterschätzt, und mangels einer sachlichen Aufklärung der Bevölkerung komme es immer wieder zu „erheblichen politischen Spannungen“. In beiden Angelegenheiten wird die Tötung bzw. „letale Entnahme“ empfohlen, im zweiten Fall insbesondere, „um späteren ideologiegeprägten Diskussionen aus dem Wege zu gehen“.

Luc Laboulle llaboulle@tageblatt.lu

Die Rede ist hier nicht etwa von Sinti und Roma, Einwanderern aus den Balkanstaaten und Flüchtlingen, die aus dem Nahen Osten und Nordafrika über das Mittelmeer nach Europa einreisen, sondern von den ursprünglich aus dem Schwarzen Meer stammenden Grundel-Fischen in der Mosel und dem Wolf, der rund 120 Jahre nach seiner Ausrottung in Luxemburg wieder den Weg von Italien und der Iberischen Halbinsel aus über Frankreich in unsere Gefilde findet.
Auffällig ist aber, dass diesen rezenten Befürchtungen der Sportfischer und der Jägerföderation und der Angst vor Migranten, die zurzeit in Deutschland, Luxemburg und vielen anderen europäischen Ländern herrscht, der gleiche Diskurs zugrunde liegt.

In Deutschland wurden laut Spiegel Online für die ersten sechs Monate dieses Jahres 173 rechte Straftaten gegen Asylunterkünfte gemeldet. In den vergangenen Wochen verging kaum ein Tag, an dem nicht ein Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft verübt wurde.

In Luxemburg verläuft diese Auseinandersetzung – mit einigen Ausnahmen – bislang noch nicht in der breiten Öffentlichkeit. Geistige Brandstiftung findet hier vor allem in den Internetforen und sozialen Netzwerken statt.
Mythen, Geschichten und Märchen wie „Rotkäppchen“ oder „Der Wolf und die sieben Geißlein“ hätten einst dazu geführt, dass aus dem scheuen Wolf in den Köpfen der Menschen eine grausame Bestie entstanden sei, erklärt der Biologe Dr. Laurent Schley in einer Veröffentlichung der Naturverwaltung. Unter der Bevölkerung hätten sich Angst und Hass breitgemacht, die zur unerbittlichen Verfolgung und anschließenden Ausrottung des Wolfes in großen Teilen Europas geführt hätten. Auch heute noch litten viele Menschen unter diesem sogenannten „Rotkäppchen-Syndrom“, schreibt Schley.

Bedauerlicherweise sind unter ihnen auch viele führende europäische Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens, die diesen Diskurs weiterhin nähren und aufrechterhalten. Das liberalistische Konstrukt des „Homo homini lupus“ ist die sozialphilosophische Grundlage der kapitalistischen Nationalstaaten. Es beruht auf der Furcht vor dem vermeintlich Anderen, der nur durch Unterwerfung und Ausbeutung zu besänftigen ist. Einfach erschießen oder ersticken lassen wie die Wölfe oder Fische kann man Einwanderer heutzutage natürlich nicht mehr. Man kann aber die Grenzen dichtmachen und die Menschen im Meer ertrinken lassen, ihnen kaum oder keine Hilfe anbieten, sie in Lagern zusammenpferchen und durch einen geschickt geführten Angstdiskurs Ressentiments schüren und mit der Unterstützung ausgewählter Medien die Bevölkerung gegen sie aufhetzen.