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Lieber Herr Fraktionschef

Lieber Herr Fraktionschef
(Tageblatt/Martine May)

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Herzliche Glückwünsche zu Ihrer Wahl: Ein CSV-Fraktionschef ist in der Luxemburger Politik ein Schwergewicht, weil er letztlich den Kurs seiner Partei bestimmt und auch die Töne anschlägt, auf die sich die Ersten und die Hinterbänkler einstimmen.

Ist es ein Abstieg für den langjährigen Staatsminister des Großherzogs, künftig zu entscheiden, ob er, die oberste Verkörperung der Opposition, ein Gesetzesprojekt der Regierung mitträgt oder nicht?

Alvin Sold asold@tageblatt.lu

Logischerweise nicht.

Vordem, als er noch selber regierte, wusste er um die Unzulänglichkeiten zahlloser legislativer Texte, aber er konnte sie nicht öffentlich kritisieren, es waren ja irgendwie die seinen. Künftig darf er in der Kammerluft rhetorisch zerreißen, was ihn nicht zufriedenstellt oder stört, oder sogar aus schierem Spaß an der wüsten Polemik.

Aber Junckers neue Freiheit, die für ihn eine Erlösung sein muss nach so langer Zeit der parteipolitischen Knechtschaft, könnte auch eine wahre Revolution im Luxemburger Parlamentarismus auslösen.

Man stelle sich einmal vor, dieser hochbegabte, hundertfach mit Orden geehrte Vollblutpolitiker, der sich zu keinem Augenblick für einen anderen Beruf hergab als den des Ministers und Staatsministers (von der kurzen Periode abgesehen, als er als Parteifunktionär diente), unterstützte nun jede gute Initiative der Regierung, das allgemeine Interesse dem der CSV überordnend!

Dann stiege er natürlich vom Ex-Staatsminister zu einem der wenigen Staatsmänner auf, die Luxemburg vorzeigen kann, wie Gaston Thorn, der Mutige von 1974.

Weil Sie, lieber Herr Fraktionschef, so oft in Ihrem politischen Leben von vermeintlichen Gesinnungsfreunden (Sarkozy, Merkel, z.B.) enttäuscht wurden, sind Sie, über das rein Luxemburger Geschäft hinaus, möglicherweise reif für die überfällige Auseinandersetzung mit Ihrem Engagement für Europa. Ihr Wunsch, eine „Europa-Pause“ einzulegen, deutet die Bereitschaft zur Infragestellung an.

Es kann nicht sein, dass Ihnen, dem dienstältesten Europapolitiker, dem Ziehsohn des Kohl und dem Boten des Chirac, entging, wie die geniale Idee eines politischen, die soziale und kulturelle Kohäsion suchenden europäischen Staatenbundes von der neoliberalen, globale Hebel ansetzenden Finanzwirtschaft zunichte gemacht wurde. Umso unverständlicher ist, in welche Exekutantentrolle Sie sich von den Herren des Geldes drängen ließen.

Ihre wichtigste Aufgabe, sehr geehrter Herr Eurochef a.D., bestand von Beginn des Raubzugs der sogenannten „Märkte“ (2008) an darin, den kleinen und kleinsten Leuten die Unvermeidlichkeit des Verzichtes auf soziale Errungenschaften zu erklären. Es gelang Ihnen blendend, indem sie als finanz- und wirtschaftspolitisches Naturereignis darstellten, was in Wirklichkeit eine zielstrebig angelegte Umverteilung von unten nach oben ist: die „Krise“.

Verarmende Staaten, wuchernder Individualismus, grassierende Arbeitslosigkeit, Entpolitisierung und Entsolidarisierung sind das europaweite Ergebnis Ihrer und Ihrer Freunde Politik. Das wird eines Tages in den Geschichtsbüchern zu lesen sein, im Kapitel: Wie konnten Le Pen, De Wilders und Cie damals, 2014, so viel rechtsradikales Kapital aus den sozialen Problemen in der Union schlagen?

Obwohl wir uns schon lange kennen, bin ich mir nicht sicher, ob Ihnen bewusst ist, wie Sie gerade von denen perniziös eingesetzt wurden, die Ihnen nach der CSV-Ablösung als Regierungspartei Beileidstelegramme schickten.

Wenn eine Merkel, ein Schäuble sagt, „Europa braucht Juncker mehr denn je“, dann meinen sie „wir, wir Merkel und Schäuble“ und die andern, die für eine europäische Freihandelszone ohne soziale Regel reiten, „brauchen Juncker mehr denn je“, Juncker, diesen Träumer, der sich für das falsche Europa halb tot schuftete.

Was hatte er doch für ein Leben während der vergangenen zehn Jahre!

Liebesentzug macht krank

Ein Träumer waren Sie immer, Herr Fraktionschef, sonst hätten Sie nie Rilke gelesen. Träumer sind sehr verletzliche Wesen: Sie verstehen nicht, dass man sie nicht versteht. Liebesentzug macht sie krank.

Wir wollen keinen kranken Juncker.

Er möge den banalen Job des Fraktionschefs neu erfinden. Anstatt, was ihm leicht fiele, frecher zu sein als die Frechsten, könnte er versuchen, die Rückkehr seiner CSV an das bisschen Regierungsmacht, das einem in Europa zu Hause noch bleibt, dadurch vorzubereiten, dass er von seinem Sockel steigt.

Und mit Hand anlegt an der Gestaltung des moderneren, leistungsfähigeren und sozialeren Luxemburg, das wir so dringend brauchen.