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Genussmittel oder langsamer Killer?Luxemburgs „gestörte Trinkkultur“ – Alle 31 Stunden stirbt ein Mensch durch Alkohol

Genussmittel oder langsamer Killer? / Luxemburgs „gestörte Trinkkultur“ – Alle 31 Stunden stirbt ein Mensch durch Alkohol
Durchschnittlich 8,9 Liter reinen Alkohols trinken über 15-Jährige in Europa pro Jahr Archivfoto: Frank Bauer

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Genussmittel oder langsamer Killer? Die Risiken des Alkoholkonsums sind lange bekannt – und dennoch besitzt die Substanz einen besonderen Status in unserer Gesellschaft. Wie gefährlich ist Alkohol wirklich? 

Statistisch gesehen stirbt in Luxemburg alle 31 Stunden ein Mensch an den Folgen des Alkoholkonsums. Diese Zahl umfasst sowohl Todesfälle durch alkoholbedingte Krankheiten als auch Todesfälle unter Alkoholeinfluss wie beispielsweise Verkehrsunfälle. Insgesamt 280 Todesfälle können 2019 auf Alkohol zurückgeführt werden. Das seien sieben Prozent aller Todesfälle in Luxemburg, sagt das Gesundheitsministerium, das sich dabei auf Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) basiert. 2017 seien es mit 361 Fällen sogar neun Prozent gewesen. Doch was macht das beliebte Genussmittel zum potenziellen Todbringer?

Nach dem Tabak ist Alkohol der zweitgrößte Risikofaktor für Krebs. In Europa ist es für 7,1 Prozent aller Krebserkrankungen verantwortlich, schreibt die „Fondation Cancer“ auf ihrer Webseite. Die Substanz begünstigt die Entstehung von mehreren Krebsarten: Brustkrebs bei Frauen, Dickdarm- und Enddarmkrebs, Mund- und Rachenkrebs, Speiseröhrenkrebs, Kehlkopfkrebs und Leberkrebs.

Allein in der europäischen Region der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der 53 Staaten angehören, konnten 2018 rund 180.000 Krebsfälle auf Alkohol zurückgeführt werden, davon 70.000 bei Frauen und 110.000 bei Männern. Im selben Jahr soll Alkohol zu fast 92.000 Krebstodesfällen beigetragen haben, schreibt die „Fondation Cancer“. 

8,9 Liter reiner Alkohol pro Jahr

Der menschliche Körper wandelt Alkohol (Äthanol) nach dem Verzehr in Acetaldehyd um. Beide werden als krebserregend eingestuft. Demnach ist jedes alkoholische Getränk, ganz unabhängig von Preis und Qualität, mit einem Krebsrisiko behaftet. Außerdem nimmt das Risiko mit steigendem Konsum deutlich zu, heißt es auf der Webseite der WHO. Die „neuesten verfügbaren Daten“ würden sogar darauf hinweisen, dass die Hälfte aller alkoholbedingten Krebsfälle in der europäischen Region durch „leichten“ bis „moderaten“ Alkoholkonsum verursacht werden – also durch weniger als 1,5 Liter Wein, 3,5 Liter Bier oder 450 Milliliter Spirituosen pro Woche. Europa ist die Region mit dem höchsten Alkoholkonsum in der Welt. Der durchschnittliche Konsum bei über 15-Jährigen liegt bei 8,9 Litern reinem Alkohol pro Jahr, behauptet die „Fondation Cancer“.

Es ist ganz einfach, je mehr man trinkt, umso größer das Risiko

Sprecher der „Fondation Cancer“

Ob es ein gesundheitlich „unbedenkliches“ Niveau an Alkoholkonsum gibt, habe bisher nicht nachgewiesen werden können. Die „Risiken beginnen beim ersten Tropfen“, schreibt die WHO. Die Frage nach etwaigen positiven Auswirkungen des Alkoholkonsums ist seit Jahren unter Wissenschaftlern umstritten. Die „Fondation Cancer“ werde häufig mit der Behauptung um das tägliche Gläschen Wein, das gesund sein soll, konfrontiert, sagt ein Sprecher der Stiftung dem Tageblatt. So häufig, dass dieser Behauptung sogar ein Platz im FAQ-Bereich der „Fondation Cancer“-Webseite gewidmet wird.

Tatsächlich habe eine Studie positive Auswirkungen von leichtem und moderatem Alkoholkonsum nachweisen können. „Die Leute haben sich dann auf diesen Schutzfaktor gestürzt“, und die negativen Auswirkungen des Alkoholkonsums, die in der Studie keine Beachtung finden, außer Acht gelassen. Letztendlich sei der Mythos um das tägliche Gläschen Wein nicht haltbar. „Es ist ganz einfach, je mehr man trinkt, umso größer das Risiko“, meint der Sprecher der „Fondation Cancer“.

Schwer überwindbare soziale Komponente

Trockner Monat mit der „Sober Buddy Challenge“

Die „Fondation Cancer“ ruft zur Teilnahme an der vierten Ausgabe ihrer „Sober Buddy Challenge“ auf. Die Stiftung hat zu diesem Zweck eine Facebook-Gruppe eingerichtet, in der sie über die Risiken des Alkoholkonsums informiert und die Teilnehmer dazu anregt, ihre Erfahrungen mit der Challenge auszutauschen. So seien eine deutliche Verbesserung des körperlichen und geistigen Wohlbefindens nur einige der positiven Folgen des Alkoholverzichts.

Die Herausforderung läuft vom 1. bis 29. Februar.

Wie lassen sich die negativen Auswirkungen minimieren? Die Antwort ist denkbar einfach: weniger trinken. Ein vollständiges Verbot oder eine Sanktionierung des Konsums von staatlicher Seite ist wohl kaum möglich, meint der Sprecher der „Fondation Cancer“. Alkohol habe hierzulande – und in Europa allgemein – eine sehr soziale Komponente, die man nicht einfach so ignorieren könne. Darüber hinaus verfügt Luxemburg über eine nicht zu vernachlässigende Wein- und Bierindustrie. Der „Fondation Cancer“-Sprecher will Alkohol auch nicht verteufeln, er rät, weiter zu sensibilisieren und aufzuklären. So können die Menschen die Risiken selbst abwägen. „Es ist wichtig, dass die Leute sich bewusst werden, was und wie viel sie trinken“, meint der Sprecher.

Ich denke, dass Luxemburg sowie auch die Nachbarländer eine gestörte Trinkkultur haben, wo es keine klaren Grenzen gibt zwischen normalem und unnormalem Alkoholkonsum

Claude Besenius, Direktionsbeauftragte des „Centre thérapeutique Useldange“

Häufig würden die Menschen ihren Konsum unterschätzen. „Alkohol ist eine sehr gefährliche Substanz“, sagt der Sprecher weiter. Es sei nicht nur der Hauptrisikofaktor für verschiedene Krebsarten, sondern auch sehr häufig mit Verkehrsunfällen und häuslicher Gewalt verbunden – ganz zu schweigen von seinem hohen Suchtfaktor. Hinzu kommt ein erhöhtes Risiko für Schlaganfälle, koronare Herzerkrankungen, Herzinsuffizienz, Bluthochdruck und Aortenaneurysmen.

„Eine gestörte Trinkkultur“

Rund 40.000 Menschen haben in Luxemburg ein Alkoholproblem, schätzt Claude Besenius, Direktionsbeauftragte des „Centre thérapeutique Useldange“ (CTU), auf Nachfrage des Tageblatt. „Ich denke, dass Luxemburg sowie auch die Nachbarländer eine gestörte Trinkkultur haben, wo es keine klaren Grenzen gibt zwischen normalem und unnormalem Alkoholkonsum“, meint sie. Formen des Alkoholkonsums wie Rauschtrinken und schwere Kater seien weit verbreitet.

Das „Centre thérapeutique d’Useldange“ (CTU) ist auf die Behandlung von Alkohol-, Cannabis- und/oder Medikamentenabhängigen spezialisiert
Das „Centre thérapeutique d’Useldange“ (CTU) ist auf die Behandlung von Alkohol-, Cannabis- und/oder Medikamentenabhängigen spezialisiert Foto: Editpress/Tania Feller

Ein Vergleich der jeweiligen Ausgaben der European Health Interview Survey (EHIS) aus den Jahren 2014 und 2019 ermögliche es, bestimmte Tendenzen aufzuzeigen, meint das Gesundheitsministerium auf Nachfrage des Tageblatt. Die Studien wurden von der Gesundheitsdirektion und dem Luxembourg Institute of Health (LIH) veröffentlicht. Sie zeigen, dass es in Luxemburg in diesem Zeitraum keinen „signifikanten Rückgang des Alkoholkonsums“ gegeben hat. Der tägliche Konsum bei Männern sei zwar leicht rückläufig, 13,7 Prozent im Jahr 2014 gegenüber 11,5 Prozent im Jahr 2019. Jener der Frauen habe aber leicht zugenommen: 5,5 Prozent gegenüber 6,2 Prozent. Der wöchentliche Konsum habe hingegen bei beiden Geschlechtern zugenommen. 47,2 Prozent der Männer haben im Jahr 2014 wöchentlich Alkohol konsumiert, gegenüber 50,1 Prozent im Jahr 2019. Bei den Frauen waren es 2014 34,1 Prozent und 2019 36,1 Prozent. Demnach gibt es bei der Häufigkeit des Konsums zwischen den Geschlechtern „signifikante“ Unterschiede: Männer trinken deutlich mehr als Frauen. Bei Männern komme es auch häufiger zu exzessiven Alkoholepisoden. Die Tendenz sei allerdings fallend, wohingegen jene bei Frauen leicht steige.

2020 gab sich Luxemburg erstmals einen „Plan d’action luxembourgeois contre le mésusage de l’alcool“ (Palma). Dadurch seien Fortbildungen für „Santé“-Mitarbeiter eingeführt worden, die sie auf die Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs vorbereitet haben, schreibt das Gesundheitsministerium. Es gebe allerdings Verbesserungsbedarf, was die Dienstleistungskapazitäten für Personen betrifft, die nach Hilfe zur Reduzierung ihres Alkoholkonsums suchen. Für Familien von Betroffenen gebe es hierzulande allerdings „so gut wie kein Angebot“ – vor allem, wenn die Betroffenen nicht selbst in Therapie sind, bedauert Besenius vom CTU.

Lange Wartelisten

Anlaufstellen bei Suchtproblemen

Unter diesem Link finden Sie eine Liste verschiedener Selbsthilfe- und therapeutischer Gruppen: http://cnapa.lu/de/services/divers-groupes-dentraide-et-therapeutique/.

Das CTU und das Centre ÄDDI-C sind zwei dieser Therapiezentren. Täglich würden sich zwei bis drei Personen an sie wenden, sagt Besenius. Beim CTU seien es allerdings eher Kliniken oder Psychiater, da dort eine medizinische Überweisung notwendig sei. Auffällig sei, dass in den letzten Jahren immer mehr Therapieanfragen bei den beiden Zentren eingegangen sind. So sind auch deren Wartelisten länger geworden, vor allem seit 2020.

Besenius nennt dafür drei mögliche Gründe: Dies könnte einerseits bedeuten, dass die Alkoholprobleme der Luxemburger zunehmen, oder aber, dass sie häufiger Hilfe in Anspruch nehmen. Doch auch die Wohnungsnot könne zu den langen Wartelisten beitragen. Wenn ein Patient eine neue Wohnung finden muss oder einen Platz in einer betreuten post-therapeutischen Einrichtung finden will, dauere das inzwischen, wodurch wiederum viel weniger Aufnahmen gemacht werden können.

Diagnose Abhängigkeit

Laut Claude Besenius von der CTU kann von einer Abhängigkeit gesprochen werden, wenn drei der folgenden sechs Kriterien im vergangenen Jahr erfüllt waren:
„1. Zwanghaftes Verhalten oder Gefühle des Zwangs zur Einnahme der Substanz – ‚craving‘;
2. Schwierigkeiten bei der Kontrolle der Einnahme in Bezug auf den Beginn, das Aufhören oder die konsumierte Menge;
3. Vorhandensein eines physiologischen Entzugszustandes beim Absetzen oder Reduzieren der Einnahme;
4. Anzeichen von Toleranz, zum Beispiel die Notwendigkeit, die Dosis der psychoaktiven Substanz zu erhöhen, um die Wirkung zu erzielen, die ursprünglich mit niedrigeren Dosen erzielt wurde;
5. allmählicher Verlust des Interesses an anderen Vergnügungen oder Aktivitäten aufgrund des Substanzkonsums, zunehmender Zeitaufwand für die Beschaffung oder den Konsum der Substanz oder für die Erholung von ihren Auswirkungen;
6. fortgesetzter Konsum der Substanz trotz ihrer eindeutig schädlichen Folgen, wie zum Beispiel Leberschäden aufgrund von Alkoholmissbrauch, Depressionen aufgrund von starkem Konsum oder kognitiven Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit der Substanz.“