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RadsportWarum es nicht das richtige Zeichen ist, verletzte Fahrer, die weiterfahren, zu heroisieren

Radsport / Warum es nicht das richtige Zeichen ist, verletzte Fahrer, die weiterfahren, zu heroisieren
Auf der ersten Etappe stürzte Wout Poels (sitzend im Bild) und brach sich unter anderem eine Rippe. Der Niederländer quält sich seitdem, ans Aufhören denkt er aber nicht.  Foto: Marco Bertorello/AFP

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Einige Radsportler gehen auch bei der diesjährigen Tour de France weit über die Schmerzgrenze hinaus. Maximilian Schachmann (Bora-hansgrohe) fährt mit einem gebrochenen Schlüsselbein, Wout Poels (Bahrain-McLaren) fährt mit einer gebrochenen Rippe sowie einer Lungenquetschung und Romain Bardet fuhr vergangenen Freitag mit einer Gehirnerschütterung noch 87 Kilometer. In den Medien werden diese Fahrer für ihre Qualen teilweise gefeiert, von Fans werden sie heroisiert. Gehören Bilder von sich quälenden Profis zum Radsport dazu oder müssen die verletzten Radfahrer gebremst werden?

Romain Bardet sitzt auf dem Asphalt. Er stützt sich mit beiden Armen ab und macht nicht den Anschein, als könne er schnell wieder auf das Rad steigen. Der Franzose ist zu diesem Zeitpunkt der 13. Etappe der Tour de France noch Dritter im Gesamtklassement. Später stellt sich heraus, dass Bardet nur wenige Momente vorher bei 65 km/h gestürzt war. Als der erste Betreuer eintrifft, versucht die Tour-Hoffnung Frankreichs, aufzustehen. Er wirkt wackelig und unsicher, hält sich zwei Sekunden auf den Beinen und fällt dann wieder auf die Straße. Dennoch hält ihn das nicht davon ab, die restlichen 87 Kilometer bis ins Ziel zu fahren und unter anderem noch den Puy Mary hochzuklettern. Bardet ist anzusehen, dass er leidet. Er verliert an diesem Tag nicht nur viel Zeit, sondern auch die Tour. Am späten Abend folgt dann die Diagnose: Gehirnerschütterung. Für Bardet ist die Tour beendet.

Bei der offiziellen Pressekonferenz, ein paar Tage vor der Tour de France, fragte ein Journalist Maximilian Schachmann (Bora-hansgrohe), wie sein Schlüsselbeinbruch behandelt wurde, den er sich vierzehn Tage vor der Tour bei der Lombardei-Rundfahrt zugezogen hatte. „Gar nicht, man hat einfach ein Tape daraufgemacht“, erklärte Schachmann. Gefundenes Fressen für die deutsche Boulevard-Zeitung Bild. Sie titelte: „Unser Rad-Star fährt mit Schlüsselbeinbruch. Die Tour de France ist hart – dieser Typ ist härter!“

Selbe Pressekonferenz, nur wenige Augenblicke später. Emmanuel Buchmann (Bora-hansgrohe) erklärte, dass er nach seinem Sturz bei der Dauphiné kaum in der Lage gewesen sei, aus dem Bett aufzustehen. Genau 14 Tage später startete er bei der Tour. Beide sind noch im Peloton dabei, Buchmann hat seine Ambitionen aufs Gesamtklassement zurückschrauben müssen, dennoch präsentierten sich beide bereits in Ausreißergruppen.

Die Rolle des Veranstalters

Klar ist, dass die Tour de France das Highlight im Radsport-Kalender ist. Gerade in diesem Jahr, in dem weniger Rennen stattfinden, stehen die Profis unter einem besonderen Druck. Klar ist auch, dass es für jeden Radsportler ein Traum ist, die Grande Boucle in Paris zu beenden. Doch wann ist die Schmerzgrenze überschritten? Wann muss ein Fahrer gebremst werden und welche Rolle spielen die Veranstalter und die Medien dabei?

Als Schachmann mit seinem gebrochenen Schlüsselbein auf der 13. Etappe in der Ausreißerguppe war und am Ende den dritten Platz erreichte, sagte der ehemalige Radprofi Jens Voigt bei Eurosport: „Radsportler sind harte Hunde, die nicht einfach so aufgeben.“ Oft werden Radsportler in den Medien dafür gefeiert, dass sie Schmerzen ertragen, um auf Biegen und Brechen im Ziel anzukommen. Die Medien spielen eine entscheidende Rolle – durch Aussagen wie jene von Voigt werden auch andere Profis, Sportler oder Hobbyradfahrer dazu animiert, ihren Körper zu quälen.

Der Veranstalter der Tour der France, die Amaury Sport Organisation (ASO), steht solchen Aussagen der Medien in nichts nach. Auf der fünften Etappe der diesjährigen Tour kürte die ASO Wout Poels (Bahrain-MacLaren) zum kämpferischsten Fahrer der Etappe – ein mehr als gefährliches Signal. Auf dieser Etappe gab es keine Ausreißergruppe und keinen Fahrer, der an diesem Tag durch einen besonders mutigen oder angriffslustigen Fahrstil auffiel. Die ASO entschied sich deswegen, den Fahrer mit den schwersten Verletzungen zum kämpferischsten Fahrer des Tages zu küren. Die Qualen, die Poels erleidet, sind ihm anzusehen – seit der ersten Etappe fährt er mit einer gebrochenen Rippe und einer Lungenquetschung. Die ASO lobt also einen verletzten Fahrer dafür, nicht vom Rad zu steigen – auch das muss bei anderen Profis, aber auch Hobbysportlern als Aufmunterung verstanden werden, Verletzungen zu ignorieren. 

Die Hoffnung auf Besserung 

Auch André Greipel wurde in deutschen Medien für sein Durchhaltevermögen gelobt. Der 38-Jährige nahm auf den letzten Etappen Antibiotika, nachdem sich seine Wunden, die er sich nach einem Sturz auf der ersten Etappe zugezogen hatte, entzündet hatten. Antibiotika, ein Stoff, der Gift für die Ausdauer ist. Ein Stoff, der aber auch Gift für den Körper ist – vor allem, wenn dieser unter extremen Belastungen steht. „Die letzten beiden Etappen waren natürlich die Hölle, nicht nur vom Profil, sondern auch von der Gesundheit“, sagte Greipel dem SID nach den ersten Etappen in den Pyrenäen. 

Ähnliches hat auch der Luxemburger Laurent Didier mitgemacht. Bei der Tour de France 2015 erkrankte er, fuhr aber, auch mit Antibiotika, weiter. Hoffen, dass es am nächsten Tag besser geht. Bei Didier klappte es. Er zeigte sich in einer Ausreißergruppe, doch zwei Tage später zeigte der Körper wieder eine Reaktion: Die Krankheit kam zurück, Fieber setzte ein, erst dann habe der Arzt entschieden, ihn aus dem Rennen zu nehmen, weil die Gesundheit vorgehe. Das sehen aber längst nicht alle Radsportler so. „Leistungssport wird nicht der Gesundheit wegen betrieben“, erklärte Dr. Alex Urhausen, Arzt des COSL, dem Tageblatt – zudem kommt der Druck vom Team und der Sponsoren dazu. Der Zustand des Körpers spielt, zumindest nach dem Rennen, eine nebensächliche Rolle. „Das Problem ist, dass man nicht an den Start eines Rennens geht, um dann aufzugeben“, erklärt Didier – selbst, wenn die Aufgabe die einzig logische Konsequenz scheint. „Das liegt in der Kämpfernatur der Radsportler.“

Stürzen, weiterfahren, bis zum Ziel durchhalten und hoffen, dass es am nächsten Tag besser ist. So läuft das meistens mit den Radsportlern, das bestätigt auch Didier. Der Niederländer Laurens ten Dam kugelte sich bei der Tour 2015 die Schulter aus, ließ sie sich wieder einrenken und kam am Ende auch in Paris an – und das, obwohl die ASO auf der Etappe bereits seinen Ausstieg verkündet hatte. „Als Fahrer träumst du davon, die Tour zu fahren“, sagte ten Dam der niederländischen Zeitung AD. „Du träumst nicht davon, aufzugeben. Das macht es so kompliziert.“ Eine Verbesserung seines gesundheitlichen Zustands erkannte der Ex-Profi aber nicht. „Ich konnte in den Touren, bei denen ich hinfiel, nach diesen Stürzen nicht mehr zulegen.“ Und deswegen fasst er rückblickend zusammen: „Eigentlich ergibt es wenig Sinn, weiterzufahren.“ 

Im Fall Bardet war das Prozedere nach seinem Sturz sicherlich ähnlich: Irgendwie ins Ziel kommen, sich behandeln lassen und dann hoffen, dass es weitergeht. Der Franzose hat wieder lange auf das größte Radrennen der Welt hintrainiert. Verständlich, dass man sich dann nicht sofort eingestehen will, dass eine Aufgabe am sinnvollsten ist. Doch mit einer Gehirnerschütterung, das hat am späten Abend auch Bardet eingesehen, kann man keine Tour de France fahren. Hätte der Franzose aber schon nach seinem Sturz die Tour verlassen müssen? „Die Sportler haben Schwindelgefühle und sind nach einem Sturz geschockt. Sie versuchen, schnell zurückzukommen, deswegen haben wir auch wenig Zeit, sie zu untersuchen. Wir haben gesehen, dass er bei vollem Bewusstsein war“, erklärte eine Tour-Ärztin nach dem Bardet-Aus. Auch der Luxemburger Henry Jost, einer der Tour-Ärzte, war bei der Behandlung des Franzosen dabei. „Unsere Rolle ist es, ihn nach dem Sturz zu beobachten. Romain kam zu mir ans Fahrzeug und wir unterhielten uns. Er war mental sehr präsent. Es ist schwer zu sagen, dass er aufhören muss, wenn wir keinen medizinischen Beweis haben“, erklärt Jost.  

Es ist sicher nicht einfach, einem verbissenen Radsportler zu erklären, dass er aufgeben muss, um sich und seine Gesundheit zu schützen – aber auch, weil es einfach keinen Sinn mehr ergibt, weiterzufahren. Mit Verletzungen wie der von Buchmann oder von Bardet, können die Radsportler ihre Ziele nicht erreichen. Dass sie dennoch weiterfahren und von Medien, Veranstaltern und Fans heroisiert werden, ist der falsche Ansatz.

Die Qualen waren ihm anzusehen: Auf der 13. Etappe fuhr Romain Bardet 87 Kilometer mit einer Gehirnerschütterung. Erst am Abend zog er sich von der Tour zurück. 
Die Qualen waren ihm anzusehen: Auf der 13. Etappe fuhr Romain Bardet 87 Kilometer mit einer Gehirnerschütterung. Erst am Abend zog er sich von der Tour zurück.  Foto: Stuart Franklin/AFP