Es gibt Situationen im Radsport, die sich einfach so ergeben. Wenn man sich allerdings als Kandidat für die Gesamtwertung einer Rundfahrt auf der 5. Etappe der Tour de France plötzlich in der Ausreißergruppe befindet, dann fährt ein gewisses Risiko mit. Die Gefahr, zu viel Energie und damit auch wertvolle Zeit zu einem frühen Zeitpunkt der Rundfahrt zu verlieren, ist groß. Doch Bora-hansgrohes Risiko und Masterplan ist am Mittwoch voll aufgegangen. 

„Das war so nicht geplant“, meinte der deutsche Bora-Profi Emmanuel Buchmann: „Ich habe mich gewundert, dass uns die Favoriten haben fahren lassen, das war aber perfekt für uns. Ein Supertag, der am Ende im Kampf um das Podium für uns entscheidend sein kann.“ Buchmann war nämlich, genau wie seine beiden Teamkollegen Jai Hindley und Patrick Konrad, Teil einer 32-köpfigen Ausreißergruppe, der unter anderem auch Wout van Aert (Jumbo-Visma), Julian Alaphilippe (Soudal-Quick Step) oder Giulio Ciccone (Lidl-Trek) angehörten. 

Während Konrad für hohes Tempo in der Ausreißergruppe sorgte, dezimierte sich die Echappée. Auf der Kuppe des ersten Anstiegs, dem Col du Soudet, lag der Österreicher Felix Gall noch vorne, Hindley befand sich dahinter mit Buchmann. Das Feld um die großen Favoriten hatte rund vier Minuten Rückstand. Am letzten und schwersten Anstieg bereitete dann der deutsche Landesmeister Emmanuel Buchmann den Sieg von Hindley vor. „Emu“ machte Tempo für den Kapitän, die Gruppe dezimierte sich und Hindley setzte sich mit Gall ab. Zwei Kilometer vor der Passhöhe des „Marie-Blanque“ ließ Bora-hansgrohe-Ass Hindley den Österreicher stehen – der große Coup der Bora-Formation nahm Formen an. 

Am Ende passierte Hindley nach 162,7 Kilometern von Pau nach Laruns mit 32 Sekunden Vorsprung auf Ciccone die Ziellinie als Erster. „Das ist unglaublich, mir fehlen die Worte“, sagte der 27 Jahre alte Hindley, der gleichzeitig auch die Führung in der Gesamtwertung übernimmt. „Ich wollte heute einfach nur viel Spaß auf dem Rad haben. Dass ich jetzt im Gelben Trikot bin, kann ich gar nicht fassen“, sagte er nach seinem Etappensieg. „Ich wusste nicht, was ich hier zu erwarten habe – es ist schließlich meine erste Tour.“ 2022 gewann er noch den Giro: Vom italienischen Rosa schlüpft er nun in das französische Gelb. 

Insgesamt war es also ein famoser Tag für die deutsche Mannschaft, der auch Bob Jungels angehört. Der Luxemburger fuhr als 44. mit 8:14 Minuten Rückstand auf seinen Teamkollegen ins Ziel. Für Jungels und seine Mannschaftskameraden wird es nun darum gehen, das Gelbe Trikot solange wie möglich zu verteidigen. Jungels und Co. werden am Donnerstag eine wichtige Rolle spielen: Auf der 6. Etappe geht es über den mythischen Col du Tourmalet, am Ende wartet die erste Bergankunft in Cauterets. Die Frage ist, wie viel Energie Hindley nach dieser 5. Etappe übrig geblieben ist. 

Am Donnerstag werde sich „jeder umbringen und alles versuchen, das Trikot zu verteidigen“, sagte Bora-hansgrohes sportlicher Leiter Rolf Aldag: „Aber wir haben im Vergleich zu Jumbo und UAE natürlich Grenzen in der Bergfähigkeit.“ 

Ein großes Ausrufezeichen hat auch Jonas Vingegaard am Mittwoch gesetzt. Der Däne nahm Tadej Pogacar und den restlichen Favoriten 1:04 Minute ab. Vingegaard attackierte am letzten Anstieg und ließ dann die Muskeln spielen. In der Gesamtwertung liegt er nun mit 47 Sekunden Rückstand auf Hindley auf Rang 2.