Headlines

Wirtschaft und Demos

Wirtschaft und Demos

Jetzt weiterlesen! !

Für 0.99 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Europa ist dabei, einen lang gehegten Traum zu verwirklichen – den der Mobilität der Bevölkerung. Diese neue „Völkerwanderung“ basiert aber nicht auf Freiwilligkeit, sondern ist allein durch die Krise bedingt.

Die gestiegene Mobilität der Bevölkerungen ist andererseits aber auch ein Zeichen der reduzierten sozialen Mobilität der Menschen. Und während man sich in Luxemburg Sorgen um den Wert der Diplome macht, ist ein anderes Phänomen – die Deklassierung der Diplome in Europa – längst Realität. Schulische Abschlüsse, auch noch so gute, sind in Europa längst kein Garant mehr für eine anständige Arbeitsstelle. Diese Erfahrung machen seit Jahren Abertausende gut ausgebildete junge Arbeitslose in den Krisenländern.

Sascha Bremer sbremer@tageblatt.lu

Viele von ihnen werden irgendwann eine ihren Qualifikationen entsprechende Arbeit finden. Viele haben dies bereits getan. Vielen wird dies nicht gelingen.

Man braucht sich mittlerweile in Luxemburg nur umzuschauen. Es sind nicht mehr ausschließlich Männer und Frauen mit wenig bis keiner Schulbildung, die die unteren Stufen unserer Dienstleistungsgesellschaft besetzen. So sind zum Beispiel die „neuen“ Kindermädchen und Tagesmütter vermehrt hoch diplomierte ausländische Immigrantinnen. In anderen Sektoren dürfte es nicht viel unähnlicher sein.

Aus makroökonomischer Sicht darf man nun jubeln. Jahrelang hieß es, dass Europa den USA wirtschaftlich hinterherhinke, weil die Europäer nicht dorthin ziehen wollen, wo es einen Aufschwung gibt. Die absolute Not macht dies heute möglich.

Eine solche Betrachtungsweise klammert natürlich die vielen Einzelschicksale und geplatzten Träume aus. Zusätzlich bedeutet es für die Krisenländer ein „brain drain“. Ihnen wird durch den Weggang der ausgebildeten Jugend in Zukunft ein Nachteil entstehen. Das Wirtschaftswachstum – sollte es denn irgendwann kommen – wird dort wahrscheinlich schleppender in Fahrt kommen. Andererseits bedeutet die Arbeitslosigkeit eine skandalöse Verschwendung von vorhandenen „menschlichen Ressourcen“.

Komischerweise sind die politischen Instanzen Europas erst dabei, sich mit dieser Thematik ernsthaft auseinanderzusetzen. Man war ja auch zu lange damit beschäftigt, die Sparschraube zuzudrehen, damit wieder Wirtschaftswachstum entsteht. Das Resultat dürfte bekannt sein. Das eine ist die Jugendarbeitslosigkeit, das andere die sich weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich. Damit bildet sich auch die Gefahr einer europaweiten Zweiklassengesellschaft.

Willkommen in der Postdemokratie

Einst warnte der französische Staatsphilosoph Alexis de Tocqueville vor der Tyrannei der Mehrheit im Rahmen einer demokratischen Gesellschaft. Diese Warnung kann man sich getrost an die Wand nageln, sollte es zur Tyrannei einer klitzekleinen reichen Minderheit kommen.

Folgendes Zitat Jean-Claude Junckers machte eingangs der Krise die Runde: „Wir wissen alle, was zu tun ist, aber wir wissen nicht, wie wir anschließend auch wiedergewählt werden.“ Diese Aussage wurde längst von der Realität überrollt. Die europäische Wirtschaftspolitik ist mittlerweile dabei, nicht nur das „Wiederwählen“ der Politiker zu erschweren, sondern das politische System gleich ganz ad absurdum zu führen.

Sollte die Tendenz der wachsenden Einkommens- und Wohlstandsungleichheit sowie die der Massenarbeitslosigkeit in Europa ungebrochen voranschreiten, dann sind die Voraussetzungen für eine demokratische Gesellschaft schlicht nicht mehr gegeben.