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Wahlrecht für Erdbeeren

Wahlrecht für Erdbeeren
(dpa)

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Kitzeln auf der Haut, die Haare flattern: Ein heftiger Wind fegt durch das Erdgeschoss des Fridericianums in Kassel. Das Kunstwerk von Ryan Gander ist weder zu sehen noch zu greifen, dafür aber zu spüren.

Kunst als Akt der Einfühlung, als sinnliches Erleben. Ohne viel Theorie dahinter. So scheint es.

Janina Strötgen jstroetgen@tageblatt.lu

Dann der Berg des chinesischen Künstlers Song Dong: „Do nothing“ – ein Nichtstuhügel, der einfach so vor sich hin grünt und dadurch die gestressten Leistungsgesellschaftler, die mal kurz Kunst angucken kommen, ganz schön verunsichert. Denn was sollen all die Steine, Schmetterlinge, Hunde, Apfelbäume und Ameisen? Ist das hier ein Naturpark oder die 13. documenta? Ist die Kuratorin Esoterikerin? Eine Animalistin? Spinnt sie?

Sie mögen etwas überspitzt erscheinen, aber eigentlich sind die von Carolyn Christov-Bakargiev (CCB) gestellten Fragen (Können Steine fühlen?) und Forderungen (Wahlrecht für Erdbeeren!) genau die richtigen. Denn sie wirken der Realität entgegen. Genau das ist Aufgabe der Kunst. In einer Zeit der Virtualisierung setzt CCB auf das Reale, das Materielle, auf die Anwesenheit der Dinge. Ihr konzeptloses Konzept („Ich habe kein Konzept!“) stellt sich gegen menschliche Allmachtsfantasien, gegen die Technikhörigkeit, gegen das Grundgefühl unserer Gesellschaft, dass alles ständig, sofort und überall verfügbar zu sein hat.

CCB fragt nach der Position der Kunst in unserer derzeitigen Lage, hebt die Grenzen zwischen Natur und Kultur auf, schickt einen Gruß 300 Jahre zurück zu Rousseau und schreit leise nach einem neuen Humanismus, einer neuen Aufklärung.

Abschied vom Anthropozentrismus

Spätestens seit Freud wissen wir, dass der moderne Mensch, das stolze Vernunftwesen, der Bestimmer über sich selbst und über die Welt, tot ist. Die Reaktionen aus der Kunst auf den Verlust des klar definierten, modernen Subjekts ließen auch nicht lange auf sich warten. Dada tobte sich endlich aus und der Surrealismus befreite sich aus dieser neuen Machtlosigkeit durch das Herumballern mit einem Revolver. Einige Jahrzehnte später reagierte die Kunst dann mit ungefährlichem Entertainment. Museen verwandelten sich in Erlebnisparks mit Zuckerwatte und Kinderkarussell.

Und die documenta heute? Sie drückt nun ordentlich auf die Spaßbremse. Schließlich gibt es heute auch nicht mehr sonderlich viel zu lachen.

Die documenta zeigt, dass uns unsere Faulheit im Umdenken in jene Krise hineinmanövriert hat, in der wir gerade feststecken. Dass der Mensch seine Vernunft Vernunft sein lässt und seine Erkenntnis, eben nicht das Maß aller Dinge zu sein, einfach ignoriert. Er treibt das Paradox sogar auf die Spitze, er tut so, als stehe er über den Dingen, während er gleichzeitig dafür sorgt, dass die Trennlinie zwischen Mensch und Ding immer stärker verwischt. Denn der Mensch verdinglicht und die Dinge vermenscheln. Warum sonst streicheln wir unser Handy? Dass in der Kunst nun die Gefühle von Steinen verhandelt werden, ist da nur logische Konsequenz.

Die documenta begnügt sich aber nicht damit, die menschliche, völlig unangemessene Überheblichkeit bloßzulegen, sondern fragt danach, wie es weitergehen soll. Sie verabschiedet sich von einem anthropozentrischen Weltbild und zeigt Dinge, die mit dem Verstand nicht zu fassen sind. Statt mit Protagoras, hält sie es lieber mit Sokrates. Auf der documenta begreifen wir, wie wenig wir begreifen. Sie streift alte Gewissheiten ab, ohne neue zu verkünden. Stattdessen setzt sie auf die Sinnlichkeit der Kunst und präsentiert zudem die Wissenschaft und vor allem die Natur als große Kunstproduzenten. Kommt bald eine neue Flower-Power-Bewegung? Als Wegbereiter zu einer dritten Aufklärung?