Es werden irrsinnige Folgefragen gestellt wie zum Beispiel: «Und wer denkt an die zahlreichen Getöteten im Irak? Wieso regt sich niemand über die Toten in der Ukraine auf?»
Dhiraj Sabharwal dsabharwal@tageblatt.lu
Man möchte antworten: «Und wer berichtet denn über diese Toten, wenn es keine Pressefreiheit gibt? Wenn jeder Journalist bereits im ‚friedlichen Westen‘ Angst haben muss, seine Meinung frei zu äußern? Und sei sie noch so unbequem? Reist du etwa in Zukunft nach Bagdad oder Kiew, um dort die Pressefreiheit zu verteidigen? Hast du denn Lust, wie bei Charlie Hebdo geschehen, täglich unter Polizeischutz zu deinem Arbeitsplatz zu fahren, damit eine der wichtigsten Errungenschaften der modernen demokratischen Rechtsordnung – die Presse- und Meinungsfreiheit – pazifistisch mit dem Stift verteidigt wird?» Es handelt sich glücklicherweise bei diesen Ansichten um Ausnahmen. Die globale Solidarität mit Paris und dem Berufsstand Journalismus ist der beste Beweis dafür.
Allerdings weckt diese Form von Meinungsäußerung den Verdacht, dass die gleichgültigen Beobachter nicht einmal verstehen, was Meinungs- und Pressefreiheit eigentlich bedeutet. Lieber beschäftigt man sich mit Spekulativem, Verschwörungen und lässt sich selbst von rechtspopulistischen Rattenfängern, die man sonst scheut, zu anti-muslimischen Ressentiments hinreißen. Eine Übertreibung? Nun, zahlreiche Beobachter haben sich davon irritieren lassen, dass einer der «professionellen» Attentäter seinen Ausweis im Auto habe liegen lassen. Schon kursieren auf Foren die Gerüchte, der Anschlag sei inszeniert worden. Angefangen bei Michel Houellebecq, der als Mastermind präsentiert wird, bis hin zum französischen Staat oder der Opposition, die politisches Kapital aus dem Anschlag ziehen will. Dass etwas an der Ausweis-Geschichte faul ist, stimmt. Allerdings fragt man sich, wieso niemand auf die Idee kommt – wenn man denn im Universum des Spekulativen, Unjournalistischen bleibt –, dass sich vielleicht das genaue Gegenteil einer Verschwörung abgespielt hat? Dass die Täter bereits vom Staat überwacht worden sind, ist kein Geheimnis. Bernard Cazeneuve wies darauf hin, dass es allerdings keine Hinweise auf einen Terrorakt gegeben habe.
Wenn jemand also fabuliert und sich etwas zusammenreimen möchte, sollte er wenigstens zu dem Schluss kommen, dass die Überwachung wohl versagt hat und man lieber einen Ausweis «per Zufall findet», als zugeben zu müssen, dass man die Täter im Visier und Hinweise für einen Anschlag hatte – und versagt hat. Aber all dieser Schwachsinn hat nun mal nichts mit Journalismus zu tun.
Genau diese Form von Hirngespinsten – seien sie religiöser, kultureller, politischer oder sozialer Art – nimmt Charlie Hebdo auf die Schippe. Und in diesem Zusammenhang muss Journalismus mindestens genauso konsequent wie Satire sein und all den Feinden der Meinungsfreiheit und des Pluralismus mit seinen eigenen Waffen angstfrei antworten: mit Fakten und der auf Tatsachen basierenden Kommentierung des Weltgeschehens.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können