Der wurde nämlich vor einigen Jahren, als den Veranstaltern die europäischen Grenzen zu eng wurden, in „Eurovision Song Contest“, kurz eben ESC, umetikettiert. Der Qualität hat’s nicht viel geholfen. Aber finanziell läuft das Ding seither ganz gut. Und traumhafte Einschaltquoten bringt es auch. Sie gehören zu der Minorität, die sich erdreistete, die Übertragung am Samstagabend zu boykottieren und sich stattdessen die Weltstars der Klassik auf 3sat anzuhören? Das war aber ganz schön mutig. Denkbar, dass Sie da einen Eklat vor laufenden Kameras hätten verpassen können.
Léon Marx lmarx@tageblatt.lu
Doch auch die Sicherheitskräfte in Baku hatten in den vergangenen Tagen eifrig geübt. Alles, was hätte gefährlich werden können, saß am Samstagabend hinter schwedischen Gardinen. Fast alles. Nur auf der Bühne räkelte sich eine junge, bildhübsche, barfüßige schwedische Künstlerin im dünnen Tüllkleid und hauchte etwas von „Euphoria“ ins Mikrofon. Ganz schön anzüglich und gewagt. Bemerkenswert, dass man die überhaupt auftreten und am Ende sogar gewinnen ließ. Schließlich hatte der Veranstalter nachdrücklich vor einer Vermischung von Kommerz und Politik gewarnt, ja sogar mit Ausschluss gedroht. Und Loreens Treffen mit aserbaidschanischen Menschenrechtlern eine Woche zuvor hatte für einen Eklat und die Einbestellung des schwedischen Botschafters gesorgt.
Damit hatte die Staatsführung der ehemaligen Sowjetrepublik den „Song Contest“ eigenhändig und definitiv aus dem Feuilletonblock der Medien in den politischen Teil gerückt. Nun durfte wirklich nichts mehr schiefgehen. Und es ging auch nichts schief. Auf der Bühne blieb es bis zum Schluss friedlicher als bei einem luxemburgischen Fußball-Pokalendspiel.
Populistischer Protest
Auf Menschenrechtsverletzungen und demokratische Defizite hingewiesen wurde aus sicherer Distanz von den Heimatkommentatoren in ihren Studios. Allein, der Protest kam reichlich spät und verlogen. Erst finanziell absahnen und dann meckern: So kann und so darf das Ding nicht laufen. Dass der ESC in Aserbaidschan über die Bühne gehen würde, war seit einem Jahr bekannt. Die Verantwortlichen der EBU (European Broadcasting Union) hätten wissen müssen, auf was sie sich da einlassen. Zeit zum Vorbeugen gab es mehr als genug. Doch man entschied anders. Genauer, man entschied gar nichts. Außer einem Hinweis auf den Eintrittstickets, dass in den Saal nur Nationalflaggen, keinesfalls aber Regenbogenfahnen (das Erkennungszeichen der unterdrückten Schwulenbewegung) mitgenommen werden dürfen.
Auch all jene, die in den vergangenen Tagen von Boykott redeten, hätten Zeit gehabt, zu handeln. Deutschland z.B., das beim Protest in der ersten Reihe stand, hätte darauf verzichten können, Roman Lob ins Rennen zu schicken. Es hätte auch darauf verzichten können, bei der Planung und dem Bau der Bühne zu helfen und wirtschaftlich von dem Event zu profitieren. Ein Boykott jedenfalls kann immer nur die zweitbeste Lösung sein.
Eine Reihe von Politikern, darunter der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn, haben auch im Zusammenhang mit der Fußball-Europameisterschaft ab Ende kommender Woche in Polen und der Ukraine von Boykott geredet. Das dürfte den meisten Fans nicht allzu schwer fallen, ist doch keine luxemburgische Mannschaft im Wettbewerb vertreten. In dem Sinne hat der Umstand, dass Luxemburg (auch) am ESC seit einigen Jahren nicht mehr teilnimmt, sicherlich einiges erleichtert. Auch wenn es Abgeordnete aus den Reihen des Ministers gibt, die sich noch am Freitag in parlamentarischen Fragen eine solche Beteiligung herbeisehnten.
Denn so richtig Spaß macht ein Boykott doch erst, wenn man damit auch eigene Leute ins Visier nehmen kann. Oder …?
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