Die Partei von Premierminister Recep Tayyip Erdogan wurde gewählt, seit 2002 mit stets besseren Ergebnissen. Bei den letzten Wahlen verpasste sie die Zwei-Drittel-Mehrheit knapp. Die Türkei hat sich in den letzten zehn Jahren wirtschaftlich gefestigt. Viele Türken konnten zum ersten Mal in ihrem Leben eine geregelte Arbeit finden, mit einem festen Mindestlohn, der von anfänglich 352 auf inzwischen 425 Euro gestiegen ist. In der Türkei wird viel von dem produziert, was hierzulande unter anderem Namen in den Wohnungen steht. In nicht-europäischen Ländern rund ums Mittelmeer haben eigene türkische Markennamen einen guten Ruf. Die Türkei, u.a. OSZE- und NATO-Mitglied, ist ein wichtiger strategischer Partner. Die Türkei ist dabei, das Kurdenproblem zu lösen, das viele Menschen bislang das Leben gekostet hat. Die Türkei lockt mit ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihren schönen Landschaften immer mehr Touristen an. Die derzeitigen Ereignisse in der Türkei zeigen keine Parallelen zu den Ländern des Arabischen Frühlings auf. Da hat Erdogan, der dies im Rahmen seines gestrigen Marokko-Besuches festhielt, recht. Ob er auch recht hat, wenn er sagt, dass die Gemüter sich bei seiner Rückkehr aus Marokko beruhigt haben werden, darf bezweifelt werden.
Serge Kennerknecht skennerknecht@tageblatt.lu
Bau-Gigantismus, der Angst macht
Denn viele Türken sind es leid, dass ihr Premier glaubt, immer recht zu haben. Ob beim Bau einer dritten Bosporusbrücke durch den restverbleibenden gründgürtel Istanbuls oder beim Bau eine s Einkaufszentrums im Gezi-Park, der letzten Grünfläche der Stadt. Dabei haben sie bislang bereits durchaus einiges in Kauf genommen.
So etwa Erdogans Ergenekon-Verschwörungstheorie, die seit 2007 offiziell besagt, dass hohe Ex-Militärs und Anwälte sich gegen die AKP-Regierung verschworen hätten. Viele Türken sahen hierin ein nützliches Mittel, die Macht der allmächtigen Militärs zurechtzustutzen. Auch dass Erdogan bei der leidigen Kopftuch-Affäre einen Teilerfolg errang, konnten sie noch akzeptieren, mit gemischten Gefühlen. Wichtig war vor allen Dingen, dass sozialer Fortschritt möglich zu sein schien, verbunden mit gesellschaftspolitischer Veränderung, der Möglichkeit der persönlichen Entfaltung und wirtschaftlichem Aufschwung. Doch die bereits gemischten Gefühle wuchsen wohl bei vielen immer mehr zu innerem Unmut. Unmut darüber, dass die Ergenekon-Theorie ab 2010 ausgeweitet und immer mehr zu einem Instrument gegen Opposition und vor allen Dingen Journalisten wurde. Passend vor den Wahlen 2011, in dem Jahr, in dem auch die Internetzensur in der Türkei verstärkt wurde.
Unmut darüber, dass Erdogan 2012 darüber sinnierte, die erst 2002 abgeschaffte Todesstrafe wieder einführen zu wollen. Oder darüber, auch im letzten Jahr, dass der erklärte Abtreibungsgegner Erdogan erklärte, das bislang liberale Abtreibungsgesetz verschärfen zu wollen. Auch das ebenfalls im letzten Jahr eingeführte Alkoholverbot an den Universitäten des Landes, das vor zwei Wochen von der AKP im Parlament generalisiert wurde, bestärkte Erdogans Kritiker in der Auffassung, dass der Premier eigentlich immer mehr in Richtung Islamisierung der Türkei hinarbeitete.
Hinzu kommt ein Bau-Gigantismus, der vielen Menschen in Istanbul Angst macht: Grundsteinlegung für eine neue, dritte Bosporusbrücke vor einer Woche, der weltweit größte Flughafen in Planung, die größte Moschee in der Türkei bereits im Bau, ein neuer Autobahnring.
All das in Istanbul, ohne Rücksicht auf die Natur und den letzten verbleibenden Grüngürtel. Somit war der Protest der Bürger gegen das Gezi-Projekt inmitten der Stadt vorhersehbar. Anders als die Brutalität, mit der die Polizei die eigentlich friedliche Demo beenden wollte.
Wodurch sich schließlich der angestaute Unmut gegen Erdogan und seine AKP im ganzen Land entlud.
Es ist nicht die politische Opposition, es sind keine Terroristen, die Erdogan jetzt den Spiegel vorhalten. Es sind die Bürger, es ist die türkische Gesellschaft, die weiterkommen und nicht länger von einem Premierminister und dessen Partei bevormundet werden will.
Erdogan und die AKP werden Farbe bekennen müssen: weitere verkappte Islamisierung oder demokratische Entwicklung. Für Erdogan und die Türkei schlägt die Stunde der Wahrheit.
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