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Sterntaler

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Es war einmal, vor langer Zeit, da herrschte im schönen Europa Krise. Gesichtslose Märkte hatten die Macht übernommen, die Menschen hatten kein Vertrauen mehr in die Politik, vielen ging es finanziell und emotional schlecht, in manchen Ländern war jeder Vierte arbeitslos.

Experten – und die Welt wimmelte nur so von ihnen – sprachen bereits von „verlorenen Generationen“. Das System schien gescheitert zu sein. Doch keiner wusste einen Ausweg.

Logo" class="infobox_img" />Janina Strötgen jstroetgen@tageblatt.lu

Denn leider regnete es nicht plötzlich goldene Sterntaler vom Himmel. Es kam auch kein wundersamer Märchenheld vorbei, der um die Welt spazierte, um den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben. Denn leider
ist unsere Welt kein Märchen, und der Mensch ist keine Fee.

Es ist nicht verwunderlich, dass die gesellschaftlichen Befindlichkeiten, die Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts herrschten, als die Gebrüder Grimm mit ihren „Haus- und Kindermärchen“ (1812) der Märchenkultur eine neue Dimension gaben, denen der heutigen Zeit ähneln. Und es ist nicht verwunderlich, dass wir deshalb zurzeit eine neue Welle des Interesses an Märchen erleben. Wir suchen heute wieder verstärkt nach Gegengewichten zur Realität. Wie damals, als der Modernisierungsschub, der die europäischen Gesellschaften erfasst hatte, zwar die schrittweise Befreiung des Menschen aus politischen, sozialen, gesellschaftlichen und mentalen Zwängen mit sich brachte, den Menschen gleichzeitig aber auch in seinen Grundfesten verunsicherte. Orientierungslos und unbehaust wanderte er durch die Welt. Bis heute, wo er sich nach einer neuen Aufklärung, neuen Ideen sehnt. Das Alte währt nicht mehr, das Neue ist noch nicht.

Wirklichkeitsflucht

Wegen all dieser Widersprüchlichkeiten gehören zur modernen Welt von Anfang an auch Kompensationserscheinungen, Ausgleichsmomente und Wirklichkeitsflucht. Der Verlust vertrauter Ordnungen ist der Ursprung des Bedürfnisses nach Märchen.

Endlich erfüllt sich der Wunsch nach Harmonie und Gerechtigkeit. Endlich wird der Schwache zum Helden, der Kranke geheilt, der Verlorene gefunden. Endlich siegt das Gute über das Böse. Und endlich ist der Mensch glücklich. Wenn er nicht gestorben ist, sogar bis heute.

Die Welt des Wunderbaren und Irrationalen, Verträumten und Magischen bietet einen Rückzugsraum, eine Gegenwelt zur Realität. In der durch das Happy End garantierten Erfüllung unserer Wünsche lässt das Märchen die Fiktion einer gerechten und menschlichen Welt zumindest für den Augenblick des Lesens wahr werden. Egal wie fabelhaft und unwirklich die Helden der Erzählung auch sein mögen, das Märchen ist offen für Deutungen und Sinngebungen. Märchen vermitteln zeitlose Werte, erlauben dem Menschen, zu träumen, machen Mut und spenden Trost. Märchen sind Deutungen einer Ethik, der nichts unwichtig ist.

Wenn wir möchten, dass auch unsere Kinder und Enkelkinder noch Märchen lesen, dann hilft es leider nichts, auf ein Wunder zu warten. Es wird nicht kommen. Denn die Zukunft liegt in unseren eigenen Händen. Das mag zum Jahresanfang leicht pathetisch klingen, doch es ist so. Wir könnten ja mal, 2013, aus Liebe zum Märchen und zu unseren Kindern, mit einer ordentlichen Medienerziehung anfangen. Wir könnten das Fach Medienkompetenz (und hier passt das Wort Kompetenz!) als Schulfach einführen. Denn iPod, Gameboy und Wii sind keine Konkurrenz zum Märchen. Schließlich lassen sich mit den technischen Mitteln unseres 21. Jahrhunderts nicht nur die Lehren, sondern sicher auch der Zauber der Märchen neu beleben.

Wir können aber auch einfach so weitermachen wie bisher. Bis wir gestorben sind.