Vor fünfeinhalb Monaten starben 298 Insassen, darunter 80 Kinder und 15 Besatzungsmitglieder, weil ihr Flieger von einer Rakete getroffen worden war. Unter den Opfern auch vier Angehörige einer Familie, die in Roeser lebte. Mit ziemlicher Sicherheit ist lediglich bekannt, dass der Flug MH17 von einer Rakete getroffen wurde. Wer sie abfeuerte, darüber streiten sich Washington, Kiew und Moskau. Eindeutige Belege lieferte bisher niemand. Trotz ausgeklügelter Abhörtechnik auf beiden Seiten, die auf der einen wohl noch feinhöriger als auf der anderen ist, wie die Lauschangriffe der NSA auf das Handy der deutschen Regierungschefin und EU-Einrichtungen in Brüssel vor Monaten zeigten.
Lucien Montebrusco lmontebrusco@tageblatt.lu
So oft man auch die Behauptung wiederholen mag, dass die tödliche Rakete von den Russen oder ihren Schützlingen in Donezk und Lugansk abgeschossen wurde, sie wird nicht wahr, bloß weil sie ausgesprochen wird. Fakten müssen auf den Tisch.
Ähnliches wiederholt sich dieser Tage, nur dass die Schurken dieses Mal nicht in Moskau sitzen, sondern in Pjöngjang. Binnen Stunden nach dem spektakulären Datenklau in der US-Traumfabrik Sony Entertainment waren die Hintermänner im finsteren Nordkorea verortet worden. Sie drangen laut US-amerikanischer Lesart in die garantiert gut abgesicherten Datenbestände Sonys ein, nahmen mit, was mitzunehmen war, und das war quasi alles, vom nicht veröffentlichten Film bis zu vertraulichen, weil persönlichen E-Mails mit pikanten Details.
Die Hacker, die nordkoreanischen, hätten ihre Spuren hinterlassen, heißt es. Dabei lernt jeder Hacker-Lehrling als Erstes, bei seinen Beutezügen keine Spuren zu hinterlassen, ironisierte die in der Regel US-freundliche Die Zeit in ihrer letztwöchigen Ausgabe. Beweise können die Ankläger auch in diesem Fall keine vorlegen.
Beide Ereignisse, der Abschuss der Malaysia-Boeing und der Sony-Einbruch, haben gemeinsam, dass zuerst einmal Anschuldigungen ausgesprochen wurden und werden, ohne handfeste Beweise vorzulegen, während die Argumente der Gegenseite von vornherein für nichtig erklärt werden. Eine gefährliche Entwicklung.
Auch wenn dieser politische Trick nicht neu ist, viel Aufregung in den Medien provoziert, dramatische Folgen zeitigt er schon, nicht so sehr für die Machthaber, sondern vielmehr für die Menschen vor Ort. Wer die Spannungen zwischen Kiew und Moskau schürt, drückt die Menschen in der Ostukraine noch tiefer in ihre Alltagsmisere; wer Nordkoreas Diktator in die Ecke treibt, verführt ihn dazu, noch weiter aufzurüsten, auf Kosten eines ohnehin darbenden Volkes.
Machtspiele nennt man so etwas. Ausgetragen auf der großen medialen Bühne, die uns die Väter und Mütter des Internets errichtet haben. Wir sind das Publikum, Zuschauer, die dank neuer Medien einen nie da gewesenen Zugriff auf Information haben, was jedoch nicht zwangsläufig mit mehr Durchblick einhergeht. Ob das neue Jahr in dieser Beziehung Besserung bringt, sei an dieser Stelle angezweifelt. Um Klarsicht bemühen muss man sich dennoch, und das beginnt mit selbstständigem Nachdenken.
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