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Sehr besorgt

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Wir, die Europäer, sind in letzter Zeit öfter besorgt. Also vielleicht nicht jeder Einzelne selber. Als Ganzes jedoch, nach außen hin, sind wir es.

Warum sonst würde unser Erweiterungskommissar Stefan Füle, also der der EU, seine Besorgnis wohl dauernd zum Ausdruck bringen?
Zum Beispiel im Falle der Ukraine, des Landes der unmündigen Bürger. Jedenfalls kann man diesen Eindruck haben, wenn man hört, was wir so sagen, also unser Erweiterungskommissar. Da werden alle, die nicht für die EU sind, als von Russland manipuliert dargestellt, indirekt natürlich. Zählt man dann diejenigen hinzu, die von Russland als Marionetten des Westens bezeichnet werden, indirekt natürlich, weil sie nicht für die Annäherung an Moskau sind, können ja nicht mehr viele selbstständig denkende Menschen in dem 45,6 Millionen Einwohner zählenden Land leben.
Was wohl der Grund dafür war, dass Füle glaubte, es wäre angebracht, die Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine in einer entscheidenden Phase kurzerhand für „ruhend“ zu erklären. Womit er vielen in der inner-ukrainischen Diskussion erfolgreich vorerst einen guten Teil des Bodens unter den Füßen wegzog.
Und jetzt sind wir wieder besorgt. Also Füle. Diesmal um die Türkei. Das Land müsse seine Rechtsstaatlichkeit wahren. Ein EU-Beitrittskandidat müsse „die politischen Kriterien für einen Beitritt respektieren“, so Füle, mit Blick auf den aktuellen Korruptionsskandal in der Türkei und die damit verbundenen Proteste, die mit Wasserwerfern niedergehalten werden. Das soll wohl als ein klarer, gar kühner EU-Nichtbeitritts-Wink mit dem Zaunpfahl an die Adresse des türkischen Premierministers Erdogan gemeint sein, der seine großen Reden zurzeit vor allen Dingen medienwirksam vor seinen eigenen AKP-Anhängern hält, die für diesen Zweck auf einen finanzierten Kurzbesuch eingeladen werden. Nach Istanbul, wo er Bürgermeister war, nicht in die Hauptstadt Ankara.

Serge Kennerknecht skennerknecht@tageblatt.lu

Hohle Rhetorik

Immerhin hat Füle den Ausdruck „Beitrittskandidat“ gebraucht. Das ist doch schon ein Fortschritt für einen Erweiterungskommissar, der nicht wahrzunehmen gewillt scheint, dass ein Teil des Erfolgs des in Richtung Islamisierung seines Landes vorpreschenden Erdogan auf der Hinhaltetaktik der EU bei den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beruht.
Was könnte Füle für ein Zeichen setzen, würde er erklären, statt wie bisher nur über 14 sogleich über alle 35 Beitrittskapitel mit der Türkei verhandeln und dann erst die Zypernfrage angehen zu wollen, statt umgekehrt.Wenn dann am Ende die Türkei so wäre, wie Wir sie wollten, könnte man einen definitiven Beitritt ja immer noch mit der Lösung der Zypernfrage verknüpfen. Aber da würde der Kommissar womöglich bei Politikern à la Merkel anecken, die zwar großmundig bekunden, für EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu sein, um gleichzeitig durch Europa schallend lediglich für eine wirtschaftliche Anbindung zu plädieren.
Und so wird denn aus hehren europäischen Besorgnis-Bekundungen hohle Rhetorik. Umso mehr als sich, parallel, die Besorgnis über Vorgänge innerhalb der EU mehr als in Grenzen hält.
Keine besorgte Kritik, z.B. von EU-Justizkommissarin Viviane Reding, an der Tatsache, dass die Briten den Zugang zu Sozialleistungen erschweren, kurz bevor die Bulgaren und Rumänen sich ab übermorgen frei in der EU bewegen dürfen. Kein Wort darüber, dass Belgien in diesem Jahr über 1.100 EU-Bürger auswies, die jetzt als „Belastung“ eingestuft werden, weil sie arbeitslos wurden und nicht mehr für sich selbst aufkommen können, oft nach jahrelangen Beitragszahlungen. Kein Wort der Besorgnis über „politische Kriterien“ zu dem neuen Abtreibungsgesetz in Spanien oder Rajoys „Gesetz für die Bürgerfreiheit“, das das Demonstrationsrecht in Spanien extrem einengt und vom vorgeschickten Europarat als „unverhältnismäßig“ eingestuft wurde. So braucht man sich nicht selber zu äußern, so kurz vor Europawahlen, nach denen man die Freunde in Madrid, London und anderswo vielleicht noch braucht.
Aber interne EU-Kritik ist ja auch schwierig. So kurz vor Europawahlen. Vielleicht braucht man sie ja noch, die konservativen Freunde in Madrid, London oder anderswo.Mit erhobenem Finger auf andere Länder zeigen, sich wegen Wahlen bei interner Kritik jedoch vornehm zurückhalten, diese Doppelzüngigkeit untergräbt die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union.
Darüber sollten viele Bürger besorgt sein. Sehr besorgt.