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Schon wieder Spitzenkandidat

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„Nicht schon wieder“, wäre man geneigt zu sagen. Am Wochenende wollte es die Welt am Sonntag nun wirklich wissen und berief sich dabei, wie andere Presseorgane in den vergangenen Wochen und Monaten gefühlte 150 Mal schon, auf wohlinformierte Kreise in Brüssel und Berlin.

Jean-Claude Juncker soll jetzt wirklich Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten bei den anstehenden Europawahlen werden.

Guy Kemp gkemp@tageblatt.lu

Um zu unterstreichen, wie richtig die Zeitung mit ihrer Meldung liegt, wird erklärt, dass selbst die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel jetzt die Kandidatur des ehemaligen luxemburgischen Premierministers unterstützt. Also doch kein Liebesentzug aus Berlin? Oder sitzt Angela Merkel bis zum Kongress der EVP Anfang März in Dublin in ihrem Kanzleramt, Gänseblümchen zupfend und die Formel murmelnd: „Ich lieb dich, ich lieb dich nicht …“? Bis sie in die irische Hauptstadt aufbrechen muss. Offenbar scheint es bei den europäischen Konservativen weniger darauf anzukommen, wer für den Posten geeignet wäre, als vielmehr, wen sich die deutsche Bundeskanzlerin auf dem Chefsessel im Berlaymont-Gebäude, dem Sitz der EU-Kommission, wünscht. Insofern könnten sich die Christdemokraten ihre Krönungsmesse in Irland sparen und gleich in den Wahlkampfmodus überwechseln. Wenn sich Angela Merkel denn mal entscheiden würde.

Etikettenschwindel?

Denn die Bundeskanzlerin ist keineswegs angetan von dieser Idee, die Besetzung des Brüsseler Spitzenpostens von einer Wahl abhängig zu machen. Darum kommt sie nicht herum, immerhin wird das, wenn auch nur zaghaft, im Lissabon-Vertrag gefordert. Dass sich dabei aber gleich auf eine bestimmte Person festgelegt werden soll und der Wähler etwas mehr als indirekt mitentscheidet, ist der Kanzlerin wohl doch etwas zu viel des Guten. Immerhin hat sie in den letzten Jahren gezeigt, dass sie dazu tendiert, möglichst viele, vor allem aber wichtige Entscheidungen und Befugnisse in der Europäischen Union in den Kreis der Staats- und Regierungschefs zu ziehen. Sehr zum Missfallen jener, die eigentlich der sogenannten Gemeinschaftsmethode das Wort reden.

Doch zurück zu Jean-Claude Juncker, der bis zum 6. März sicherlich noch einige Male zum Spitzenkandidaten der EVP ausgerufen wird. Dem Interessierten dürfte so viel Werbung um seine Person durchaus gelegen kommen, ein Umstand, den dieser mit seinem gern zitierten Kalauer „gefickt eingeschädelt“ umschreiben würde.

Allerdings könnten die EVPler mit ihrem Spitzenmann Juncker doch noch in Erklärungsnöte geraten. Denn die Konservativen heben mit ihm einen Spitzenkandidaten auf ihren Schild, der eigentlich überhaupt nicht zur Wahl antritt, zumindest nicht zu den Europawahlen. Das tun aber die Kandidaten der übrigen politischen Gruppierungen, vom Sozialisten Martin Schulz über den Liberalen Guy Verhofstadt bis hin zu den grünen Doppelspitzen Ska Keller und José Bové. Dass dies keine Bedingung sein muss, kann hier gerne festgehalten werden. Schließlich geht es um die Präsidentschaft in der EU-Kommission und nicht um ein Mandat als EU-Parlamentarier. Dennoch wird es schwierig werden, dem europäischen Wahlvolk einen Spitzenkandidaten bei den Europawahlen zu empfehlen, zu der dieser erst gar nicht antritt. Es ist nicht nur den ob ihres vorausgesagten Erfolges bei den kommenden Europawahlen zunehmend gefürchteten Populisten und Extremen am rechten und linken Rand zuzutrauen, dass diese Etikettenschwindel schreien. Genüsslich werden sie Junckers Fehlen auf den Wahllisten als weiteren Beweis zutiefst undemokratischer Praktiken in der EU vor die durch Krisen-, Spar- und Austeritätsprogramme geschundenen europäischen Wähler zerren.