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Politisch korrekt

Politisch korrekt
(Alain Rischard/editpress)

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Hier eine kleine Ohrfeige, da ein Küsschen, Gezupfe an der Krawatte und ein markanter Spruch („Hallo, Diktator“) – mehr braucht es in Europa nicht, um Shitstorms loszutreten. Seit genau einer Woche ist EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Junckers eher unkonventionelles Begrüßungsritual beim Gipfel in Riga der digitale Renner. Am lautesten sind jene Stimmen, die von „unwürdigem“ oder „irrationalem“ Verhalten sprechen.

Dhiraj Sabharwal dsabharwal@tageblatt.lu

Man kann seine Politik in verschiedenen Punkten durchaus hinterfragen, aber es ist einfach nur lächerlich, sich derart lange mit einem banalen – und für Juncker nicht ungewöhnlichen – Auftritt zu befassen. Hinzu kommt, dass viele doch von „Brüssel“ ein anderes Auftreten fordern: Wie oft wird Europa für seine Steifheit, sein Bürokratentum kritisiert? Wie oft wünscht man sich ein zugänglicheres Europa fernab von jedem Protokoll-Gehabe, eines, das näher an den Menschen ist? Nun, wie man diese Woche feststellen konnte, scheinen viele europäische Bürger sich etwas zu wünschen, das sie scheinbar nicht ertragen können: politisch inkorrektes Auftreten. Angefangen bei den lässigen Satirikern von Le petit journal, die den Shitstorm losgetreten haben und sich doch recht gekünstelt schockiert zeigten. Satiriker, die Größe von einem Politiker fordern? Langweiliger geht’s nimmer.

Am meisten ärgern einen jedoch jene, die sich darüber schockiert zeigen, dass Juncker den ungarischen Premier Viktor Orban mit „Diktator“ begrüßt hat. Sie scheinen entweder vergessen zu haben, wer Orban ist und für welche Politik er steht, oder aber sie sind ganz einfach verlogen. Auch hier gilt die eingangs formulierte Kritik, dass man sich doch gerade von europäischen Führungsspitzen symbolische Gesten wie diese wünscht. Wer an Orbans Zensurwut, sein Gespiele an Ungarns Verfassung, seinen mangelnden Respekt vor Menschenrechten und seine erniedrigende Roma-Politik denkt, müsste Junckers Aussage eigentlich eine Sternstunde der europäischen Politik nennen. Wie Libération es treffend beschrieben hat, ist der EU-Kommissionspräsident „drôle et funèbre à la fois“. Denn „drôle“ war zwar sein Auftritt, „funèbre“ jedoch die Wahrheit dahinter: Orban gehört politisch zum Schlimmsten, was Europa in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat. Demnach sollten sich jene, die Größe von Juncker fordern, daran erinnern, dass der Kommissionspräsident mit seiner kleinen Geste lediglich die Wahrheit gesagt und mehr politischen Mut als so manch einer seiner Kollegen bewiesen hat. Dass er dies auf eine politisch inkorrekte Art und Weise tat, hatte umso mehr Impakt.

Denn wie viel Aufmerksamkeit erhält Junckers Plan für ein Quotensystem – der Diktator aus Budapest nannte diesen übrigens „Wahnsinn“ – oder die nach ihm benannte Investitionsoffensive? Dass die drei zentralen EU-Institutionen sich gestern nach einem Verhandlungsmarathon auf die Details des Juncker’schen Investitionsfonds (EFSI) einigten, bewegte nur mit dem Thema vertraute Kreise. Dabei zeigt gerade dieser Schritt, dass die amtierende EU-Kommission dazu in der Lage ist, mehrheitsfähige Kompromisse auszuhandeln.

Ob Juncker genug Geld in seinen Fonds kriegt und Europas Wirtschaft wieder ankurbeln kann – daran sollte er gemessen werden. Nicht an seiner politischen Korrektheit.

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