Headlines

Nicht schlafwandeln

Nicht schlafwandeln

Jetzt weiterlesen! !

Für 0.99 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Am Donnerstag (13.02.14) vor exakt 95 Jahren wurde die erste Weimarer Regierung gebildet, zufälligerweise auch eine Dreierkoalition bestehend aus Sozialdemokraten, Liberalen und der katholischen Zentrumspartei.

Na ja, „die Grünen“ gab es ja damals noch nicht. Was uns an dem Datum interessiert ist jedoch nicht, dass es als geschichtlicher Aufhänger für die „Gambia“-Koalition herhalten kann. Die „Weimarer Republik“, wie sie im Nachhinein genannt wurde, war eine direkte Folge des Ersten Weltkriegs, der oft als Urkatastrophe Europas bezeichnet wird. Im kommenden Juli jährt sich zum hundertsten Mal der Jahrestag, an dem die Europäer begannen, sich selbst zu zerfleischen.

Claude Molinaro cmolinaro@tageblatt.lu

Auf Einladung des „Institut Pierre Werner“ hielt der renommierte Geschichtsprofessor der Universität Cambridge Christopher Clark am Montag (10.02.14) eine Konferenz über die Ursachen des Ersten Weltkrieges. Sein Buch „Die Schlafwandler“ zu eben diesem Thema hatte es in kürzester Zeit zum Bestseller gebracht. Dass das Thema noch immer interessiert – auch in Luxemburg – beweist neben den Verkaufszahlen des Buches auch die Besucherzahl der Konferenz. Der Saal im Kulturzentrum Neumünster war restlos ausverkauft. Wer zu spät reservierte, fand sich auf einer Warteliste wieder.

Kritiker in den ehemaligen „Entente“-Ländern, aber auch in Deutschland lobten das Werk, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Clark versucht vor allem, die Hauptschuldtheorie zu widerlegen, nach der hauptsächlich Deutschland die Schuld an der Katastrophe zukommt. Der Krieg entstand nicht nur, weil ein Land es so wollte, sondern alle Länder machten bei der Vorbereitung eifrig mit. Dass es schließlich dazu kam, sei auf ein Zusammenspiel von vielen Faktoren zurückzuführen.

Geschichte soll uns nicht nur wegen der spannenden Geschichten interessieren, die sie uns bietet. Oft heißt es, die richtigen Lehren müssen aus der Vergangenheit gezogen werden. Obwohl schon hundert Jahre her, gibt uns der Erste Weltkrieg heute immer noch Lektionen. So sieht Christopher Clark seine „Schlafwandler“ z.B. als Plädoyer dafür, Serbien in die EU zu integrieren. Solche regionalen Konflikte können nicht regional gelöst werden, sondern auf einer höheren Ebene.

Das gleiche Prinzip liegt den Vereinten Nationen zugrunde. Ob das immer funktioniert, ist eine andere Sache. Interessant dürfte in den kommenden Wochen und Monaten die Diskussion unter den hiesigen Historikern werden, was die neue Auffassung über den Ersten Weltkrieg denn für das Großherzogtum bedeutet. Obwohl sich Luxemburg immer wieder als Opfer des großdeutschen Imperialismus darstellt, hat es das Land bis dato nicht fertiggebracht, dass ein Feiertag an das Ende des Ersten oder auch des Zweiten Weltkrieges erinnert. Eine Haltung, die man zumindest als ambivalent bezeichnen muss. Des Tags des Waffenstillstands am 11.11.1918 wird in fast allen damaligen „Entente“-Staaten mit einem Feiertag („armistice“) gedacht. In Deutschland und Luxemburg ist es lediglich der Beginn der Karnevalssaison.

Institut für Zeitgeschichte

Begrüßenswert ist deshalb ein Punkt des Regierungsprogramms, der bis dato ziemlich unbeachtet blieb in der öffentlichen Diskussion: „Le Gouvernement créera un Institut d’Histoire du temps présent“ (Institut für Zeitgeschichte). Vor fast genau einem Jahr veröffentlichte das Tageblatt einen Artikel über die Deportation von 280 jüdischen Kindern. Ein Kapitel unter vielen, das es aufzuarbeiten gilt.

Damit Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden können, muss man diese erst einmal kennen. Ein „Institut für Zeitgeschichte“ würde nicht nur Historikern einen Job geben, sondern auch Grauzonen der kollektiven Erinnerung ausradieren. Also nicht damit warten, bis „Gambia“ Geschichte geworden ist.