Es kam der „Mauerfall“ und mit diesem ein vollständiges anderes Europa. Deutschland musste einen Zuwachs von 16,4 Millionen Einwohnern auf insgesamt 78,7 verkraften, territorial vergrößerte es sich um 108.000 auf 357.000 km2.
Serge Kennerknecht skennerknecht@tageblatt.lu
Das Land brauchte Geld, wollte es diesen Kraftakt stemmen. Wie alle Länder, in denen die „Mauer“ gefallen war, wurde auch Deutschland auf diesem schweren Weg unterstützt. Dennoch, das Land musste sich umstellen. Mit anderen Worten, Deutschland hat die strukturellen Reformen, die es heute von anderen Ländern einfordert, nicht etwa mit Blick auf den Euro hinter sich gebracht, sondern weil es nach der Aufhebung der Teilung, angesichts der hohen Kosten für die Wiedervereinigung, dazu gezwungen war. Das war für viele hart. Für alle z.B., die mit 1-Euro- oder 300-Euro-Jobs zu höherer Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten der Sozialbereiche beitrugen und beitragen. Deutschland trickste auch auf anderer Ebene, ebenso wie Frankreich. Fünf Mal insgesamt haben die Deutschen die Maastricht-Kriterien nicht eingehalten.
Zudem machte Deutschland Schulden. Heute noch haben sieben Länder der Eurozone weniger Schulden als die Deutschen. Auf der gesamten EU-Ebene sind es deren 17, wie Premier Jean-Claude Juncker neulich anführte. Der deutsche Schuldenstand ist mit dem heutigen Tag rekordverdächtig.
Mehr Kompetenzen für Brüssel
Es ist also schwierig für Deutschland, anderen Ländern in Sachen Haushaltskriterien und Schuldenberge Vorbehalte zu machen.
Das scheint man bei unserem Nachbarn inzwischen zu merken. Der Widerstand gegen die sture deutsche Haltung in der Schuldenkrise nimmt zu. Besonders seit der Wahl des neuen französischen Präsidenten François Hollande. In Deutschland beginnt man einzusehen, dass es Grenzen der Zumutbarkeit gibt, in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal und anderen. Es ist nicht alles machbar, was wünschenswert wäre, und es hat keinen Sinn, dauernd mit einem mahnenden Zeigefinger auf Sünden der Vergangenheit zu zeigen, wenn man selber während dieser Phase volle Unterstützung erfuhr und sich nicht an Abmachungen hielt. All dies spaltet und trennt, während das Gegenteil dringend nötig ist, um der Krise Herr zu werden.
Dass nun ausgerechnet der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble in seinem Land und auf europäischer Ebene eine Diskussion über mehr Kompetenzen für Brüssel und die damit verbundene Abgabe von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten an Brüssel und Straßburg lostritt, ist beachtenswert. Ebenso wie sein Vorschlag, dass die Bürger der Länder per Referendum hierüber entscheiden sollten.
Wenn man sich an die Angst erinnert, mit der sich viele Länder noch zu Zeiten des Lissabon-Vertrags vor Volksabstimmungen drückten, ist bei Schäuble ein Umdenken zu erkennen, das Mut macht. Denn nur wenn die Bürger wieder in das Geschehen einbezogen werden, kann man wissen, wo Europa wirklich steht.
Das wird nicht einfach und für manche Überraschung oder für Rückschläge sorgen, aber es scheint der einzige Weg, Politik und Menschen einander wieder näherzubringen. Dass Schäuble zudem glaubt, dass dies schneller Wirklichkeit werden könnte als man glaubt und dabei ausdrücklich darauf verweist, dass er vom Fall der Mauer überrascht worden ist, zeigt, dass man aus der Geschichte allgemein und der eigenen lernen kann. Hierauf sollte sich Europa besinnen.Der einzige Wermutstropfen bei Schäubles Vorschlag ist, dass er sich vor allen Dingen auf die Finanzprobleme bezieht. Verständlich, doch nicht ausreichend.
Denn nur wenn es bei diesem neuen Kapitel Europas auch möglich ist, nicht nur wirtschafts- und finanzpolitische, sondern auch soziale Komponenten einzubeziehen, nur dann weht demnächst in Europa ein neuer Wind.
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