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Milons schweres Erbe

Milons schweres Erbe
(dpa-Archiv)

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Beide traten gegürtet hervor in die Mitte des Platzes, packten einander und hielten sich fest mit den kräftigen Armen (...). Beiden knackte der Rücken, vom Druck der verwegenen Arme.

Hart gepresst, und es troff der quellende Schweiß auf den Boden. Viele Beulen schwollen empor an den Seiten und Schultern, rotgedunsen vom Blut; und immer noch rangen die beiden siegesbegierig im Kampf um den festgeschmiedeten Dreifuß“: Die ältesten überlieferten Schilderungen sportlicher Wettkämpfe stammen von Homer, der ca. 700 vor Christus gelebt haben soll. Wobei es sich bei Homers Epen „Ilias“ und „Odyssee“ um Aufzeichnungen von mündlichen Überlieferungen handelt, so dass die beschriebenen Szenen viel älter sein dürften als der Autor.

Philip Michel pmichel@tageblatt.lu

Das eingangs beschriebene Duell jedenfalls stammt aus „Ilias“ und schildert einen Ringkampf. Der adelige Krieger Achilleus hatte zu Ehren eines im Kampf um Troja gefallenen Freundes sogenannte Leichenspiele organisiert. Leichenspiele gelten gemeinhin als Ursprung des Sports im antiken Griechenland und somit auch als Ursprung der Olympischen Spiele der Antike. Sie umfassten in der Regel sieben Wettkämpfe: Wagenrennen, Boxen, Laufen, Solloswurf (heute Diskus), Bogenschießen, Lanzenwurf (heute Speer) und eben jenes Ringen. Wobei die Geschichte des Ringens noch viel weiter zurückdatiert werden kann, finden sich doch in Gräbern aus den drei großen Epochen der ägyptischen Blütezeit zahlreiche Darstellungen von Ringkämpfen.

5.000 Jahre später geht es der womöglich ältesten Sportart der Welt an den Kragen, ist sie doch letzte Woche von der Exekutive des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) aus dem Programm der Spiele gehebelt worden. Das Ringen soll Platz machen für „modernere“ Sportarten. Wobei die Streichung aus dem olympischen Programm nichts anderes bedeutet als den Weg einer immerhin alle vier Jahre im Fokus stehenden (und somit an die Fleischtöpfe des Weltsports gelangenden) Randsportart in die absolute Bedeutungslosigkeit.

Tradition vs. Erneuerung

In London wurden im vergangenen Sommer insgesamt 54 Ringer-Olympiamedaillen vergeben. Unter den ersten zehn Ländern im Ringer-Medaillenspiegel platzierten sich u.a. Russland und die USA, aber auch Sportnationen ohne jegliche Lobby im IOC wie z.B. Iran, Aserbaidschan, Usbekistan oder Georgien. Der Streichung des Ringens aus dem olympischen Programm dürfte demnach durchaus ein gewisses Kalkül zugrunde liegen. Denn erstens würden jede Menge Medaillen und Startplätze für neue Sportarten frei, und zweitens dürfte der Protest aus den „Ringernationen“ nicht allzu viel Gewicht in der Sportwelt haben.

Ob die Rechnung allerdings aufgeht, bleibt abzuwarten, denn eine endgültige Entscheidung über das olympische Programm wird erst auf der IOC-Vollversammlung im Herbst fallen. Dann wird sich zeigen, ob die IOC-Mitglieder wie sonst üblich den Empfehlungen der Exekutive folgen. Dagegen spricht, dass die IOC-Vollversammlung mit ihrem gefühlten Durchschnittsalter von 100 Jahren durchaus traditionalistisch veranlagt ist. Und dass schon die Ankündigung der Streichung des Ringens aus dem Olympia-Programm außergewöhnliche Allianzen schuf: So solidarisieren sich momentan die Ringer der politischen Erzfeinde Iran und USA.

Ringen nicht olympisch, das ist aufgrund der Tradition dieser Sportart schwer vorstellbar. Auf der anderen Seite ist die historische Verankerung im heutigen Millionengeschäft Sport ein schwaches Argument. Da wiegen Attribute wie Telegenität und Zuschauerfreundlichkeit schwerer.

Vielleicht hätte der internationale Ringerverband ja die Zeichen der Zeit früher erkennen müssen und die Sportart erneuern sollen. Der berühmteste Ringer aller Zeiten, Milon von Kroton (ca. 555-510 v. Chr.), kämpfte übrigens genau wie alle anderen Athleten im antiken Griechenland so gut wie unbekleidet.
Vielleicht wäre das ja in Anbetracht der Popularität von Beachvolleyball und Co. die richtige Fährte gewesen … Armer Sport.