Vor Jahren habe ich im Magazin forum einen Artikel gelesen, in dem folgende Aussage eines israelisch-britischen Historikers zitiert wurde: „Wissenschaftlich“ fundierte historische Wahrheiten können bloß unumstößliche Fakten betreffen, die Beurteilung oder Bewertung historischer Ereignisse hingegen kann prinzipiell angefochten werden.
Beispiel: Ich war überzeugt, dass Deutschland und Österreich weitgehend für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verantwortlich waren. Christopher Clark hat mich mit seinem Buch „The Sleepwalkers“ eines Besseren belehrt.
Die moralische Bewertung von zurückliegenden Handlungen aus heutiger Sicht ist eben an sich fraglich. Die Zerstörung eines Denkmals von Sir Cecil Rhodes etwa, von General Robert Lee oder, man staune, von Winston Churchill, ob deren verflossenen Handlungen, mag gut gesinnt sein, riskiert jedoch von geschichtlichem Unverständnis zu zeugen.
Im Tageblatt vom Samstag, 16. Oktober, ist nun unter dem Titel „Study the historian before you study the facts“ ein Artikel von Christoph Brüll und Andreas Fickers erschienen, der dem Einfluss von Familienlegenden auf unsere Meinungsbildung gewidmet ist und in meinen Augen seinen Titel völlig verdient.
Es sei hierzu ein Beispiel aus luxemburgischer Sicht gewagt: Ein luxemburgischer Historiker, der in einer Familie aufgewachsen ist, die den letzten Krieg in Luxemburg erlebt hat, der Verwandte hat, die umgesiedelt, verhaftet, eingezogen oder sonst wie von deutscher Seite Ungemach zu ertragen hatten, wird wahrscheinlich anders über das damalige Geschehen denken als ein luxemburgischer Historiker, dessen Eltern oder Großeltern erst kurz vor Kriegsausbruch oder danach eingewandert sind. Dies, obschon beide ernsthaft bestrebt sind, ohne Vorurteil, also absolut objektiv zu urteilen: Erlebnisse, Familienlegenden prägen sich ein, bewusst oder nicht, beeinflussen die spätere Beurteilung von Ereignissen.
Für einen etwaigen Zeitzeugen kommt dann die allzu menschliche Tendenz hinzu, die Vergangenheit, die Erinnerungen zu verschönern: „Früher war es besser“!
Schlussfolgerung: Geschichte ist keine exakte Wissenschaft.
"pathogenen kollektiven Konsequenzen noch intensiver." Wie denn das? Meine Eltern und deren Familien waren auch nicht gerade verschont, haben aber ohne Scham von ihren Erfahrungen erzählt, z.B. vom Arbeitsdienst, der Zwangsrekrutierung, der Umsiedlung, dem KZ, an der Front in Russland, danach Gefangenschaft in Tambow, den Fluchthelfern und Verstecken der "Deserteuren".
Vielleicht kann ich den Psycho -Spitzfindigkeiten nicht so folgen wie einige Meister der Psyche, also bitte noch einmal in verständlichen Worten. Meine Ausbildung hat leider nicht bis zum Dr. Phil oder wie auch immer gereicht.
Was sagt unser lieber Jean denn zum 2. Weltkrieg? Wie immer, es gibt verschiedene Ansichten!?
Eine wissenschaftlich unumstößliche historische Wahrheit ist die Tatsache, daß die Generation meiner Eltern (ich bin Jahrgang 1954) von der luxemburgischen klerikalfaschistischen Nazipropaganda terrorisiert und radikalisiert wurde. Diese traumatisierende Gewalterfahrung sitzt in der lux. DNA (>Epigenetik). Wegen der Tabuisierung dieser kollektiven schambesetzten Erfahrungen werden die pathogenen kollektiven Konsequenzen noch intensiver. Eine tabuisierte Vergangenheit ist der Garant für eine ungebrochene Kontinuität.
MfG
Robert Hottua