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Keine Zeit

Keine Zeit
(Alain Rischard/editpress)

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Eigentlich fehlt heute die Zeit für einen Leitartikel. Schließlich sollte man dafür etwas Ruhe haben, zum Nachdenken, Überdenken, Weiterdenken.

Doch von Ruhe keine Spur, wir sind ja alle so beschäftigt: Die Nachrichtenticker laufen auf Hochtouren, soziale Medien schreien nach Aufmerksamkeit, das Telefon, die Mailbox, Twitter … Wir arbeiten zu viel, wir haben keine Zeit.

Janina Strötgen jstroetgen@tageblatt.lu

In Costa Rica gibt es ein kleines Wörtchen, das nicht nur etwas über das Zeitempfinden, sondern auch über die Selbstbestimmung seiner Einwohner aussagt: «ahorita», die Diminutivform von «ahora», was sich mit «gleich», eventuell auch mit «sofort» übersetzen ließe. Bekommt man auf seine Frage, wann denn der bestellte Kaffee nun komme, die Antwort «ahora», dann kann man ziemlich sicher sein, dass man ihn in der nächsten Zeit auch bekommen wird.

Lautet die Antwort hingegen «ahorita», dann sollte man sich lieber ein anderes Café suchen, dann hat der Kellner mit höchster Wahrscheinlichkeit beschlossen, die Kaffeemaschine heute aus zu lassen. Wird in der Antwort gar «ahoritica» oder «ahorititica» benutzt – Verkleinerungsformen in zweiter und dritter Potenz, für die sich beim besten Willen keine Übersetzungen finden lassen –, dann bleibt einem eigentlich nur noch übrig, sich auf die Suche nach einer Kaffeeplantage zu machen …

Hier soll nun kein Loblied auf die Langsamkeit zentralamerikanischer Gemütlichkeit angestimmt werden, doch fällt es auf, dass es gerade Menschen aus den vermeintlich reichsten und freiesten Ländern am schlechtesten zu gelingen scheint, souverän über ihre Zeit zu bestimmen. Wo man sich woanders Zeit für ein Schwätzchen nimmt, würgt man bei uns lieber ab, hastet weiter, zum nächsten Termin. Gejagt und getrieben, bis man dann irgendwann mausetot umfällt.

Doch wer jagt und treibt uns denn? Schnelle Antworten gibt es viele: die Arbeit, der Chef, der Konkurrenzdruck, die Medien, die Globalisierung – ganz einfach: die Geschwindigkeit moderner Gesellschaften.

Schnelle Antworten sind allerdings nicht unbedingt die, die uns weiterhelfen. Schnelle Antworten sind nicht mehr als Teil des Systems, sie passen zur Schnelllebigkeit unserer Zeit, sie befriedigen nur kurzfristig.

Wie wäre es damit: Unsere Gesellschaft ist zu bequem geworden, sich Zeit zu nehmen. Das klingt auf den ersten Blick paradox, ist es aber nicht: Schließlich ist es einfacher, die zwanzig Minuten zwischen Termin 1 und Termin 2 mit dem Herunterscrollen der Facebookwall zu verbringen, als die Zeit für die Lektüre eines einzigen anspruchsvollen Artikels zu nutzen. Viele in Häppchengröße zubereitete Infos lassen sich leichter verdauen als eine tiefgründige Analyse, die Mitdenken erfordert. Anstatt sich auf Auseinandersetzungen einzulassen, lässt man sich lieber berieseln. Anstatt um langfristige Lösungen zu ringen, trifft man lieber schnelle Entscheidungen.

Die Tendenz zur Hast ist übrigens auf allen Ebenen unserer Gesellschaft zu beobachten. Im Privaten wie im Beruflichen, an der Universität ebenso wie in der freien Wirtschaft oder der hohen Politik. Und wieder einmal kann man nur dem weisen George Orwell recht geben, der sagte: «Die Zeit vergeht nicht schneller als früher, aber wir laufen schneller an ihr vorbei.»