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Keine Stimme zu viel

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Seit einer Woche beschäftigen sich die deutschen Medien mit der Beteiligung an den Europawahlen. Die Berichterstattung betrifft jedoch vornehmlich nur einen der rund 400 Millionen wahlberechtigten Europäer.

Der Auserkorene ist der Deutsch-Italiener Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der deutschen Wochenzeitung Die Zeit. Dieser hat am 25. Mai zwei Stimmen abgegeben, da er sowohl aus Italien als auch aus Deutschland eine Wahlbenachrichtigung erhalten hatte. Doppelstaatler dürfen aber nur in einem EU-Mitgliedstaat wählen. Natürlich hätte der Chefredakteur der Zeit wissen müssen, dass er keine zwei Stimmen abgeben darf. Selbstverständlich ist die nun eingeleitete Ermittlung wegen Wahlfälschung rechtens.

dvalvasori@tageblatt.lu

Schaut man sich jedoch die Wahlbeteiligung vom 25. Mai genauer an, erkennt man, dass das wahre Problem nicht eine Stimme zu viel ist, sondern rund 227 Millionen Stimmen zu wenig. Anstatt eine falsche Stimmabgabe eine ganze Woche lang aufzukochen, sollte man sich lieber fragen, warum nur 43,1 Prozent der wahlberechtigten Europäer am vorvergangenen Sonntag ihre Stimme abgegeben haben. Unter anderen Umständen hätte dies nämlich dramatische Konsequenzen haben können. So galt beispielsweise in Russland bis 2004 bei Präsidentschaftswahlen eine Mindestwahlbeteiligung von 50 Prozent. Wurde dieses Quorum nicht erreicht, galt die Abstimmung als illegitim und wurde nicht anerkannt. Ein solches Gesetz würde das Europäische Parlament wohl vor existenzielle Probleme stellen. Anstatt sich dieser Problematik anzunehmen, gibt es in Europa tatsächlich Experten, die einen Zuwachs der Wahlbeteiligung von 0,1 Prozent im Vergleich zu den letzten Europawahlen als Erfolg feiern. Dass gerade mal 400.000 Personen mehr als 2009 ihre Stimme abgegeben haben, ist allerdings ein Armutszeugnis.

Euroskeptiker profitieren

Gerade die diesjährigen Europawahlen wurden nämlich im Vorfeld für besonders wichtig erklärt und sollten viele Wähler anlocken, denn die Staats- und Regierungschefs mussten aufgrund des Lissabonner Vertrags zum ersten Mal den Ausgang der Europawahl (theoretisch) berücksichtigen, bevor sie einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorschlagen. Im Endeffekt hat dies jedoch die Mehrheit der Europäer schlichtweg nicht interessiert.

Trotz dieser alarmierenden Tatsache setzt man sich in Deutschland weiterhin mit der Posse rund um die Doppel-Wahl Di Lorenzos auseinander. Gibt man bei news.google.de die Stichwörter „Europawahl“, „Di Lorenzo“ und „Stimmabgabe“ ein, erhält man 2.410 Treffer. Bei den Wörtern „Europawahl“ und „niedrige Wahlbeteiligung“ erhält man 1.110 Ergebnisse (Stand 1.6.2014, 20.30 Uhr). Diese nicht ganz wissenschaftliche Methode gibt dennoch eine beunruhigende Tendenz wieder. Dabei darf man gerade als europhiler Mensch die Problematik der niedrigen Wahlbeteiligung nicht außen vor lassen, da diese vor allem den Euroskeptikern in die Karten spielt. Das heißt, Letztere profitieren – Anhänger extremer Parteien tendieren erwiesenermaßen viel stärker dazu, zu wählen, als andere Bürger – und fördern dieses Wahlverhalten durch ihre populistische antieuropäische Politik.

Es gilt demnach, diese Problematik ernst zu nehmen und aufzuarbeiten. Für die nächsten Europawahlen im Jahr 2019 sind wohl einige Korrekturen nötig. Groß angelegte Informationskampagnen, ein längerer und intensiverer Wahlkampf – und warum nicht auch parallel dazu eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten – könnten Abhilfe schaffen. Was der Sache sicher nicht dient, ist das Aufkochen einer zu viel abgegebenen Stimme.