Keine 24 Stunden später war Silke Bischoff tot. Das hübsche Gesicht der blonden 18-Jährigen im schwarzen Rollkragenpullover hat in Deutschland auch 25 Jahre nach dem Gladbecker Geiseldrama niemand vergessen.
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Genauso wenig wie die Visagen der Verbrecher Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, die vom 16. bis 18. August 1988 nicht nur die Polizei, sondern ganz Deutschland mit Hilfe entfesselter Medien in Atem hielten. Es war das erste Stück Reality-TV, ein Roadmovie in echt, Tatort live sozusagen. Gemacht von Journalisten, die jede Grenze überschritten. Was freilich nur möglich war, weil eine unfassbar stümperhafte Polizei sie nicht daran hinderte.
Ulrich Kienzle, damals Chefredakteur von Radio Bremen, brachte es auf den Punkt: „Die Geiselnehmer waren sehr tumbe Figuren, die aber einen lichten Augenblick hatten. Sie haben erkannt, was man mit den Medien anstellen kann.“ Rösner und Degowski waren „plötzlich in ihrem miesen kleinen Leben bedeutend“. Sie haben diese Rolle genossen.
Das Drama begann in Gladbeck im nördlichen Ruhrgebiet. Rösner, nach einem Hafturlaub zwei Jahre untergetaucht, überfiel mit seinem Komplizen Degowski eine Bank, nahm Angestellte und Kunden als Geiseln.
Bereits hier spielten die Medien eine Rolle. Rösner stellte seine Forderungen in einem TV-Interview. Wenig später sahen Millionen Fernsehzuschauer, wie ein Bankangestellter mit einem Würgeband um den Hals das Lösegeld ins Innere der Bank zerrte. Mit zwei Geiseln stiegen Rösner und Degowski in das bereitgestellte Fluchtauto, live übertragen im „ZDF-heute-journal“. Die Reise ging nach Bremen, zuvor hatten die Geiselnehmer mehrmals das Auto gewechselt, eine Polizeiwaffe und ein Funkgerät gestohlen, Rösners Freundin abgeholt, mehrmals seelenruhig Kaffee getrunken und waren zu guter Letzt sogar shoppen gegangen. Die Polizei hatte mehrmals die Fährte verloren, nicht so die lokalen Medien.
Surreal
Richtig surreal wurde es dann, als die Kidnapper einen voll besetzten Linienbus kaperten. Wieder waren die Kameras näher am Geschehen als die Polizei, bei der offensichtlich niemand die Verantwortung übernehmen wollte und noch nicht einmal ein Ansprechpartner für die Geiselnehmer gestellt wurde. Diese Funktion übernahmen dann wieder Journalisten.
Erneut stellte Rösner mit der Pistole in der Hand vor laufenden TV-Kameras seine Forderungen und benutzte die Medien als Sprachrohr. Gleichzeitig stiegen Fotografen in den Bus, um Bilder von zu Tode geängstigten Geiseln zu machen. Der Voyeurismus hatte seinen Höhepunkt erreicht, als sogar Schaulustige sich im Bus umblickten. Die Polizei, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, verhinderte all das nicht.
Im Gegenteil, sie leistete sich weiter Fehler um Fehler und hatte schließlich den Tod zweier Geiseln, des 15-jährigen Emanuele de Giorgi und eben Silke Bischoffs, zu verantworten. Man hatte sogar vergessen, einen Rettungswagen anzufordern.
In Köln gab es das letzte unwürdige Intermezzo. In einer Einkaufsstraße umzingelten Schaulustige und Journalisten den Fluchtwagen der Verbrecher. Interviews wurden geführt, auch mit den Geiseln. „Wie Tiere im Zoo“ habe sie sich gefühlt, sagte später Ines Voitle, die Freundin Bischoffs, die mit dem Leben davonkommen sollte. Ein Boulevardjournalist, der später Bild-Chefredakteur wurde, stieg freiwillig in den Wagen. Als Mischung aus „größter Story meines Lebens“ und dem Gefühl, „in einem falschen Film“ zu sein, erklärte er sein Handeln. Dabei war er zu diesem Augenblick nichts anderes als ein willfähriger Handlanger der Geiselnehmer.
„Zwei wichtige Institutionen Deutschlands haben versagt: Journalisten und Polizei. Und nur dadurch war es möglich, dass das Geiseldrama diese Dimension bekam“, fasste Rundfunkmann Kienzle zusammen.
Immerhin zog man aus den anschließenden Debatten über die unglaublichen Geschehnisse Konsequenzen. Der Journalistenkodex wurde nach langen Diskussionen über die Verantwortung der Medien geändert, die Polizei komplett umstrukturiert. Und so scheint 25 Jahre nach dem sinnlosen Tod von Silke Bischoff, Emanuele de Giorgi sowie einem Polizisten eine Wiederholung selbst in Anbetracht des nicht nachlassenden Voyeurismus von Boulevard-Zeitungen und Fernsehsendern ausgeschlossen. Wirklich?
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