Eine menschlichere, im Sinne des humanistischen Ideals, war sie allemal. Man hatte die Lehren aus dem Weltkrieg noch nicht vergessen (nie wieder!); man wollte, zumindest in Westeuropa, ein sozial gerechtes System aufbauen, im Wissen, dass der letztlich von allen geschaffene Mehrwert vorrangig dem Gemeinwohl zu dienen hatte.
Alvin Sold asold@tageblatt.lu
Wann begannen die Kräfte, welche hinter dem Ökonomismus stehen (Vorrang hat das Geld an sich, auf die Profitmaximierung zugunsten der Besitzer ist alles Handeln ausgelegt, koste es die Gesellschaft, was es wolle), mit dem Abbau des Sozialstaates in der Europäischen Union?
So um 1990, mit den liberalen Spielregeln für den weltweiten und den innereuropäischen Menschen-, Waren- und Geldverkehr. Seither wurden gewaltigste, weltweit tätige Konzerne konstruiert, an deren Spitze solche Männer gelangen (Frage: Hätten Quoten- und andere Frauen humanistischer gehandelt?), die sich allein der Shareholder Value verpflichten, im Rahmen der örtlichen Gesetze „natürlich“.
ArcelorMittal ist ein typisches Beispiel. Im Hintergrund zog eines der trickreichsten US-amerikanischen Geldhäuser (Goldman Sachs) die Fäden. Der hochverschuldete Stahlmagnat konnte gerettet werden, indem man ihm die Übernahme der noblen europäischen Schmiede ermöglichte. Jetzt lässt er „seine“ europäischen Werke fallen, darunter luxemburgische, weil sie weniger rentabel sind als das neue Geschäft, zu dem er gedrängt wird: Bodenschätze! Hier desinvestiert Mittal, dort investiert er. Wer sollte ihn in der globalen Marktwirtschaft daran hindern? Sein Gewissen? Es gab einmal Wirtschaftstheoretiker, die ethische Regeln den gesetzlichen Vorschriften überordneten. Vergessen ist z.B. Max Webers Denken. Wer sich in die ersten Autopsieberichte gescheiterter Banken (Dexia, Lehman Brothers usw., usf.) einliest, kann sich nur über die Naivität oder/und die Komplizität der Regierungen wundern, welche dem Finanzengineering alle Schleusen öffneten.
Eines sollten wir endlich verstehen: Es ist nicht gut, wenn die Politiker zu gut Freund sind mit den Herren der Geldströme. Wie viel Brücken bauten sie Big Business und Big Finance, mit Sondergesetzen, Subsidien und Privilegien, ohne im Gegenzug Garantien einzufordern? Wieso darf ein profitables Unternehmen, darf eine profitable Bank ohne Weiteres Werke und Filialen schließen, mal hier, mal da, ohne Rücksicht auf die Folgen für die Menschen und das Land? Ja, warum gibt es in diesem wunderbaren europäischen Großraum, in dem Milliarden gemacht werden, keine gemeinsame Sozialpolitik; warum steht das individuelle Eigentumsrecht der Großaktionäre über dem öffentlichen Sozialrecht? Weil Letzteres nie geschrieben wurde? Welch skandalöse Unterlassung! Aber wir sinnierten eingangs über die menschlichere Welt der vorhergegangenen Generation. Ließen die, derer wir nun gedenken, sich weniger verdummen als wir?
Die gewollte Rezession
Hätte man ihnen den Kassenzettel, den Herr Frieden dieser Tage vorlegte (so viel mehr Ausgaben zum Stichtag, so viel weniger Einnahmen), als einen Beleg für die Verschlechterung der Finanzlage des Staates verkaufen können? Aber nein! „Wie viel steht denn noch aus?“, hätten sie gefragt, und: „Sind Sie sicher, Minister, dass Ihre Steuerbehörde über genügend Fachkräfte verfügt, um die bekannten Hinterzieher zu überführen?“
Und: „Wann sehen Sie ein, dass die in der ganzen EU praktizierte Austerität alle Staaten in die Rezession führt? Wollen Sie und Ihre Vordenker diese Rezession etwa, weil sie Millionen Arbeitslose schafft und die verängstigten Menschen endlich kuschen?“
Kuschen und begreifen, wofür sie in heutiger Zeit überhaupt leben: Um als human resource, als Rohmaterial, zu dienen. Nicht, um sich als Mensch zu entfalten.
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