Die Grundidee der Mindestlöhne besteht ja nun im Wesentlichen darin, dass ein Mensch, der Vollzeit arbeitet, von dem Geld, das er dafür erhält, wenigstens seine Grundbedürfnisse befriedigen können soll. Das ist die Theorie: In ihrem eindrucksvollen Buch Nickel and Dimed hat die US-Journalistin Barbara Ehrenreich im Eigenversuch nachgewiesen, dass in den USA sogar Menschen, die zwei Jobs haben, oft (und zwar nicht erst am Ende des Monats) vor dem Dilemma stehen, ob sie die Miete zahlen oder ihren Kindern was zu essen kaufen sollen. Und dennoch hört man in der gesamten westlichen Welt aus konservativen und wirtschaftsliberalen Kreisen immer wieder die gleiche Leier: „Mindestlöhne machen die Wirtschaft kaputt. Wir stehen in Konkurrenz zu den Chinesen, da können wir uns einen solchen Luxus nicht leisten.“
Francis Wagner fwagner@tageblatt.lu
Kurzsichtige Profitgier
Wie Menschen, die am unteren Ende der Lohnskala stehen, es zuwege bringen sollen, sowohl Miete wie auch Nahrung zu bezahlen, davon reden sie eher nicht. Und sei es nur, weil ihnen die Probleme der „unwashed masses“ schlicht und ergreifend schnurzpiepegal sind.
In einem bemerkenswerten Aufsatz in der Freitagsausgabe des Guardian beschreibt der an der Universität Cambridge lehrende Wirtschaftswissenschaftler Ha-Joon Chang aber, wie kurzsichtig und letztlich kontraproduktiv dieser ständige Kampf gewisser Kreise der Wirtschaft gegen anständige Löhne und Gehälter ist.
Zunächst einmal: Wir im Westen stehen lohnmäßig nicht in Konkurrenz mit den Chinesen. Wäre das nämlich der Fall, dann müssten allein in Großbritannien die Löhne um 85 Prozent sinken. Und das kommt ja nun tatsächlich wohl nicht in die Tüte. Beim Kampf gegen dezente Löhne geht es, so Chang, also in Wirklichkeit nicht darum, mit den Chinesen mithalten zu können, sondern vielmehr darum, die Einkünfte der Aktionäre weiter zu steigern.
In den Jahren 2001 bis 2010 verteilten die größten 86 Unternehmen aus dem UK 88 Prozent ihrer Profite an ihre Shareholder. Da bleibt dann halt leider für das Salariat nicht mehr allzu viel übrig.
Chang macht aber dann drauf aufmerksam, dass ein deutscher Automobilarbeiter doppelt so viel verdient wie sein US-„Rivale“ (und 30 Mal so viel wie ein Chinese) und dennoch eine höhere Produktivität bietet als der Ami. Was damit zu tun hat, dass er erstens viel besser ausgebildet und zweitens deutlich höher motiviert ist. Und er ist höher motiviert, weil er anständig bezahlt wird und sich respektiert fühlt.
Und wer seine Arbeiter respektiert, zahlt ihnen keine Hungerlöhne. Der Vergleich einer Reihe von westlichen Volkswirtschaften macht deutlich, dass man als Unternehmer für gutes Geld in der Regel auch gute Arbeit erhält.
Aber es hilft alles nichts: Mit deprimierender Regelmäßigkeit schwingen im reichen Westen die Niedriglohn-Prediger den chinesischen Popanz, um die Aktionärsprofite auf Kosten der Würde und des Lebensstandards ihres Salariats zu steigern.
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