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Glaubwürdigkeit

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Wenn man dann vor der Alternative steht, jene Partei zu wählen, die in dem letzten Jahrzehnt das Land wirtschaftlich und sozial vorangebracht hat, oder aber eine Oppositionspartei, deren Konturen nur schwer zu erkennen sind, dann wählt man die Partei, die man mit Fortschritt gleichsetzt. Selbst wenn es eben diese Partei ist, die in anderen gesellschaftlichen Bereichen eigentlich für Rückschritt steht.

Serge Kennerknecht skennerknecht@tageblatt.lu

So geschehen in der Türkei bei den letzten Kommunalwahlen, als die islamisch orientierte AKP des Premierministers Erdogan zur Überraschung vieler haushoch gewann. Nun haben Kommunalwahlen sicher ihren eigenen Charakter, dennoch sagen sie einiges über die politischen Grundtendenzen in einem Land aus, wie auch das Beispiel Frankreich gezeigt hat. Und somit stehen die Chancen für den Kandidaten der Partei Erdogans bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen im August gut. Ob der Kandidat nun Erdogan heißen wird oder nicht. Ohnehin hat der Premierminister in der Türkei zurzeit mehr Befugnisse als der Präsident, auch wenn dieser im August zum ersten Mal direkt von den Wählern bestimmt werden wird und nicht vom Parlament. Der aktuelle Präsident Gül, langjähriger Weggefährte von Erdogan, hat am Freitag überraschend angekündigt, nicht mehr für das Amt kandidieren zu wollen. Erdogan seinerseits kann theoretisch nicht für ein viertes Mandat als Premier kandidieren. Die Satzungen der AKP lassen dies nicht zu. Doch Satzungen kann man ändern. Will man das vermeiden, wird Erdogan Präsidentschaftskandidat sein. Das ist sicher. Der nächste Schritt der AKP wird dann der Versuch einer Verfassungsänderung sein, die dem Präsidenten mehr Befugnisse zusichert.

Man darf also gespannt sein, wie es weitergehen wird in der Türkei. Ein Land, das in letzter Zeit eigentlich mehr durch negative Schlagzeilen aufgefallen ist, von der brutalen Niederschlagung der Proteste gegen das Bauvorhaben im Istanbuler Gezi-Park über Korruptionsvorwürfe gegenüber dem Premierminister bis hin zur darauffolgenden Amtsenthebung zahlreicher Polizisten und Richter. Von der schleichenden Islamisierung eines bislang laizistischen Staates ganz zu schweigen, Stichwörter Kopftuch und Verkaufsverbot für Alkohol. Ebenso von der Internetzensur, die bereits vor Jahren einsetzte, und dem unsinnigen Twitter- und YouTube-Verbot.

Wirtschaftlicher Aufschwung

Eben Letzteres offenbart den Zwiespalt, in dem sich das Land befindet. Viele Türken sind hin- und hergerissen. Einerseits wollen sie einen moderneren Staat, der den Bürgern mehr Freiheiten und Rechte bringt, auch und besonders kulturelle, andererseits will man das Bestehende bewahren. Die Türkei hat in den letzten Jahren einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Freie Handelszonen mit niedrigen Steuersätzen in ansonsten benachteiligten Regionen haben dafür gesorgt, dass viele Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben einer geregelten Arbeit nachgehen können, mit einem ebenso geregelten Lohn, auch wenn noch die Sechs-Tage-Woche gilt. Es hat sich zaghaft eine Mittelschicht gebildet.

Das Gesundheitssystem ist leistungsfähiger und vor allen Dingen für viele zum ersten Mal zugänglich geworden. Da fällt es leichter, eher den repressiv ausgerichteten Politikern wie Erdogan zu glauben als den vielen anderen, die immer wieder auf eklatante Fehler im immer strammer national ausgerichteten AKP-Staatsgefüge aufmerksam machen.

Umso mehr, wenn diese eigentlich im Stich gelassen werden. Zum Beispiel von der Europäischen Union. Am 3. Oktober 2005 hat die Türkei in Luxemburg das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet. Und seither verhandelt man und verhandelt. Zypern- oder Kurdenfrage, alle Argumente sind gut, um die Verhandlungen zu verzögern. Auch die unsägliche Diskussion über eine privilegierte Partnerschaft statt einer Mitgliedschaft, wie sie von der deutschen Kanzlerin Merkel, dem früheren französischen Präsidenten Sarkozy und jetzt wieder von Kandidaten für das Europaparlament oder sonst welchen europäischen Spitzenposten immer aufs Neue angeregt wird, zieht den fortschrittlichen Kräften dort den Boden unter den Füßen weg.

Anfangs Motor für gesellschaftlichen Fortschritt, durch die Umsetzung des „acquis communautaire“ in türkisches Recht, ist die EU durch das zögerliche Weiterkommen bei den Verhandlungen eigentlich zum unfreiwilligen Unterstützer von Erdogan und seiner konservativen Partei geworden. In einem Land, in dem man „Luxembourg“ auf Französisch ausspricht, ist die EU einmal mehr dabei, das Wichtigste, was sie hat, aufs Spiel zu setzen: ihre Glaubwürdigkeit.