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«Ein Tisch ist ein Tisch»

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Der streitbare deutsche Publizist Jakob Augstein forderte gestern in einer Kolumne auf Spiegel Online dazu auf, wieder Begriffe wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Demokratie und Freiheit „zurückzuerobern“.

Augstein meint, wir (Deutschland, Europa, der Westen) würden in einer Zeit der Aushöhlung der Wörter leben. Dabei ist es viel schlimmer gekommen, als Augstein sagt, denn die Begriffe werden ja eigentlich schon längst umgedeutet.

Sascha Bremer sbremer@tageblatt.lu

Dass man seit gut zwei Jahrzehnten den Menschen eine Verschlechterung der Verhältnisse dadurch verkauft, dass man dies mit dem eigentlich positiven Begriff «Reform» verbindet, dürfte mittlerweile bei jedem Bürger Europas angekommen sein. Kommt es ganz dicke, dann wird noch gerne hinzugefügt, «dass es keine Alternativen gibt.» Mit Demokratie meinen so einige, von Madrid bis Istanbul, immer öfter lediglich den Wahlgang, und nicht das Mitregieren des Volkes – sie, die Zivilgesellschaft, ist ja auch so lästig, wenn man wirtschaftlich gestalten will, man denke nur an «Stuttgart 21». Was ist mit Freiheit in Zeiten von Prism gemeint, oder mit Gerechtigkeit in Zeiten des Wohlstandsgefälles, um nur diese Beispiele zu nennen?

Die Lüge als politisches Werkzeug hat ausgedient, und der politische Sprachgebrauch benutzt zunehmend Prinzipien aus dem orwellschen «Newspeak». Das Vokabular für ein und dieselbe Sache ändert sich ständig, Synonyme und Antonyme werden ganz einfach gestrichen. Man nennt dies heutzutage «story telling» auf Englisch, und passenderweise kommt der luxemburgische Plural «Geschichten erzielen» dem wahren Sinn viel näher.

Dabei war die Idee der «noblen Lüge», welche dem Volk von den Eliten erzählt wird, um die soziale Harmonie aufrechtzuerhalten oder um etwas umzusetzen, eine über Jahrtausende bewährte Methode und geht mindestens zurück bis auf den griechischen Philosophen Plato. Mal ehrlich, trotz des Bonmots «Wenn es ernst wird, muss man lügen» war es ja nicht Premierminister Juncker, der die Lüge als politisches Werkzeug entdeckt hat.

Doch wir sind mittlerweile in einem anderen Stadium angekommen. Wenn ein Tisch nicht mehr «Tisch» genannt wird, sondern „Stuhl“, dann ist Kommunikation nicht mehr möglich, dann haben wir das Ende des Miteinanders erreicht. Ja sogar der Einzelne, wenn er sich in diesem Zustand verlieren sollte, verliert letztlich jeden persönlichen Halt. (Nachzulesen bei Peter Bichsel.)

Diese Umdeutung so schwerwiegender und wichtiger Begriffe, die man mittlerweile in ganz Europa antrifft, führen zum Zerfall der Gesellschaft und in letzter Konsequenz der Demokratie, meint Augstein – und da hat er recht. Man kann es überall sehen. Griechenland wurde «gerettet», Spanien, Portugal, Irland, Zypern … Dass eigentlich die Banken dieser Länder gemeint sind, und nicht die Menschen, ist wohl jedem irgendwie bewusst. Doch man braucht es ja nur oft genug zu wiederholen, damit die Menschen abstumpfen und der Meinung sind, es handele sich um ein und dasselbe.

Die Umdeutung der Begriffe ist die letzte Waffe, die bleibt, wenn «noble Lügen» nicht mehr reichen, um das Volk gefügig zu machen. Wer braucht noch zu lügen, wenn man den Verantwortungsträger zum Verräter umdeuten kann und aus denen, die keine Verantwortung tragen wollen – oder darunter etwas anderes verstehen als das, was allgemein damit gemeint ist –, Opfer einer bösartigen Intrige werden? Dies hat mit Wahrheit nichts mehr zu tun, sondern allein mit Glauben.

Dieser Zustand ist aber auch ein Gradmesser für die intellektuelle Ehrlichkeit der Entscheidungsträger. Eine Lüge kann man ja entlarven, eine Behauptung auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen, darüber diskutieren. Jedenfalls sofern man sich auf ein Minimum an gemeinsamem Sprachgebrauch einigt. Heute stellt man sich allerdings zunehmend die Frage «Worüber reden die denn?».

Es verwundert demnach schon, wenn so manche christlich-konservativen Politiker Europas – und ja, Sie haben
es fast erraten, auch hierzulande – diesen verdrehten Diskurs nach dem Motto «Et ass jo eigentlech gehopst ewéi gesprongen» selber herbeiführen, wenn gleichzeitig deren Mutter Kirche nicht müde wird, den scheinbar alles umspannenden Relativismus als moderne Zivilisationskrankheit schlechthin anzuprangern.

Das Recht des Stärkeren

Augstein meint etwas vorschnell, schuld an dieser Misere seien der Kapitalismus und der Umstand, dass wir Bürger die Verantwortung delegiert hätten.

In Zeiten von Krieg und Krise, oder wenn es um Geldgeschäfte geht, spricht man eben nicht mehr auf Augenhöhe miteinander, sondern es gilt das Recht des Stärkeren, meinte am Montag quasi parallel dazu der luxemburgische Philosoph Paul Kremer in einer Radiosendung auf 100,7. Solche Dinge wie Moral, Anstand, Verantwortung und Menschenrechte haben dann keinen Wert mehr. Das wussten schon die alten Griechen.

Paul Kremer fragte demnach, ob Philosophie in Zeiten, in denen das Geld oder das Recht des Stärkeren regiert, überhaupt noch möglich sei. Er hätte auch schlichter nach «dem Denken» oder «dem Diskutieren» fragen können.