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Der Stachel der Ignoranz

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Sogenannte „Taubenspikes“ – Metallspieße, die vornehmlich an Dächern angebracht werden, um Vögel davon abzuhalten, zu nisten oder den Gehweg und die Terrassen zu beschmutzen – sind in jeder Stadt zu finden und wirken auf den ersten Blick recht harmlos.

Dass diese Metallspitzen nun zweckentfremdet werden, überrascht und empört zugleich. Auf dem Bloggingdienst Twitter dokumentierte ein Foto den Einsatz von sogenannten „anti-homeless spikes“ in London. Dort wurden Metallspitzen vor dem Eingang eines Privathauses angebracht, um Obdachlose davon abzuhalten, sich dort auszuruhen oder zu übernachten.

Damien Valvasori dvalvasori@tageblatt.lu

Dieses skandalöse Vorgehen ist allerdings kein Einzelfall. Solche Metallspitzen werden praktisch weltweit eingesetzt, vornehmlich von Städteverwaltungen. In Großbritannien, Deutschland, China, den USA und Südafrika wurden „anti-homeless spikes“ unter Brücken angebracht. Oft werden auch öffentliche Bänke so geformt, dass man nicht darauf schlafen kann. Sogenannte „Beton-Pyramiden“ unter Straßenüberführungen oder schräge Böden dienen demselben Zweck. Dem Ideenreichtum der Gesellschaft scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein, wenn es darum geht, ihre Ignoranz und Skrupellosigkeit umzusetzen.

Versteckte Diskriminierung

Natürlich kann man dieser Diskussion eine gewisse Scheinheiligkeit vorwerfen. Die meisten derjenigen, die sich über die „anti-homeless spikes“ aufregen, haben selbst wohl noch nie einem Obdachlosen aktiv geholfen. Tatsächlich können wohl leider nur die wenigsten von sich behaupten, Letzteren zum Essen oder zur Übernachtung eingeladen zu haben.

Doch zumindest der passive Beitrag eines jeden – der Umgang des Staates mit den Steuergeldern – sollte sinnvoll eingesetzt werden. Anstatt mehr in private oder öffentliche Projekte für Obdachlosenhilfe zu investieren, wird Geld dafür ausgegeben, Menschen aus dem Stadtbild zu verjagen. Frei nach dem Motto: Was ich nicht sehe, gibt es nicht.

Die oberflächliche Gesellschaft will sich schlicht nicht mit „Verlierern“ oder „nutzlosen“ Bürgern auseinandersetzen. Sie „beschmutzen“ das Stadtbild und erinnern einen daran, dass man eventuell selbst irgendwann dort landen könnte, denn eine Scheidung, eine schwere Krankheit oder Arbeitslosigkeit kann jeden treffen. Das Gefährliche an der Ausmerzung der Obdachlosen aus dem Stadtbild ist zudem, dass diese inhumanen Aktionen passiver Natur und nicht sofort zu erkennen sind. Eine abgerundete Bank sorgt nicht für Empörung. Je nach Gestaltung wird sie sogar als architektonisch wertvoll wahrgenommen. Erst wenn man über den praktischen Hintergedanken reflektiert, erkennt man die gut versteckte Diskriminierung. Und dies tun leider die wenigsten.

Kurzfristig sind die „anti-homeless spikes“ die beste Lösung aus der Sicht von skrupellosen Gemeinden, die Obdachlose aus ihrer Stadt verbannen wollen. Wer Obdachlosigkeit allerdings mit humanen Mitteln bekämpfen will, muss langfristig denken und Projekte fördern, die sich für Obdachlose einsetzen.

Zwar wird die Obdachlosigkeit wohl nie ausgemerzt werden, allerdings kann man so die Situation der Obdachlosen sowie deren Ausstieg optimieren, denn die Begleitung zurück in die Arbeitswelt oder Hilfestellungen bei der Wohnungssuche sind deutlich effektiver als Metallspitzen. Letztlich darf der Staat nie vergessen, dass es seine Aufgabe ist, im Dienst seiner Bürger zu handeln. Im Optimalfall tut er dies im Besonderen für benachteiligte Menschen. Davon sind wir leider noch weit entfernt.