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Der Pfeil fliegt herum

Der Pfeil fliegt herum

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Die Kränze sind bestellt, die Mäntel sind gekauft. Allerheiligen steht vor der Tür. Und mit diesem Feiertag der jährliche große Auftritt ganzer Familien an den Gräbern ihrer Ahnen. An sie will man heute besonders stark denken. In schicken neuen Mänteln und mit pompösen Gestecken.

Doch selbst wenn an Allerheiligen, wie an jedem anderen Feiertag auch, menschliche Schwächen zum Nutzen des Geschäfts instrumentalisiert und missbraucht werden, versteckt sich hinter dieser Volksbewegung auf die Friedhöfe des Landes viel mehr als nur Kommerz.

Janina Strötgen jstroetgen@tageblatt.lu

Einmal im Jahr, für ein paar Stunden, holen wir den Tod bewusst ins Leben zurück. Jenes unfassbare und unkontrollierbare Ende, jenes Ereignis, das uns Angst macht und um das wir im Alltag gerne einen großen Bogen machen, steht im Mittelpunkt des 1. Novembers. Ob katholisch oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Der Brauch der Gräbersegnung hat längst die klerikalen Mauern verlassen. Tod und Trauer gehen jeden etwas an, denn der Verlust eines nahen Menschen ist schwer zu ertragen – mit oder ohne Gott. Ebenso wie andere Bräuche und Rituale ist die Religion nur eine von vielen möglichen Stützen, die sich der Mensch gebaut hat, um mit dem Tod besser umgehen zu können. Und Allerheiligen ist in gewisser Weise auch gelebter Bertolt Brecht, der sagte: „Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.“

Der letzte Akt des Lebens

Der Tod eines nahen Menschen ist das eine. Die Beschäftigung mit dem eigenen Tod das andere. Seit jeher treibt der Tod den Menschen um. Und seit jeher kämpft der Mensch um möglichst viel Selbstbestimmung beim letzten Akt seines Lebens. In den Künsten bewundern wir vor allem jene Helden, die frei über ihr Lebensende entscheiden, sei es der junge Werther bei Goethe oder die Selbstmörderin Tosca in der gleichnamigen Oper, um nur diese zu nennen.

„Auf jeden Menschen“ hat der Dichter Jean Paul gesagt, „wird im Augenblick der Geburt ein Pfeil abgeschossen, er fliegt und fliegt und erreicht ihn in der Todesminute.“ Der Pfeil wird treffen, jeden von uns, da können wir nicht mitreden, er ist unkontrollierbar, ungerecht, unverständlich. Doch den Weg bis dorthin, den gestalten wir. Der Tod ist ohnehin schon die größte Beleidigung des auf seine Autonomie pochenden Individuums. Deshalb ist es für den Menschen umso wichtiger, sich zumindest das Sterben nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Luxemburg ist eines der wenigen Länder, das die Selbstbestimmung über ein würdevolles Sterben mit dem Euthanasiegesetz 2009 auf eine rechtliche Grundlage stellte. Dieses Gesetz ist eine der größten gesellschaftspolitischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte, denn der Staat tritt hier in seiner Gestalt als Dienstleister für den Bürger auf. Er stellt das Individuum und seine Emotionen in den Mittelpunkt. Das ist das Mindeste, aber auch das Größte, was er im Bezug auf den Tod tun kann.

Und dennoch, trotz aktiver und passiver Sterbehilfe, trotz noch so toller Maßnahmen zur Schmerzminderung, trotz guter ärztlicher Betreuung und trotz einer im Idealfall liebevollen, begleitenden Familie, jeder Mensch stirbt allein. Der Tod behält seine unheimliche Gestalt, da wir ihn nicht verstehen können, unser Wissen, so groß es auch sein mag, stößt hier auf unüberwindbare Grenzen. Das einzige, was bleibt, ist der Glaube. Auch der ist frei. Jeder kann selbst entscheiden, an was er glauben möchte, an einen Gott, an ein Nichts, an eine Wiedergeburt als Ameise oder daran, dass er, der Tod, eigentlich ein ganz netter Kerl ist, wenn man ihn dann irgendwann etwas besser kennenlernt …