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Der peinliche Kandidat

Der peinliche Kandidat

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Während sich der US-Wahlkampf langsam, aber sicher dem Endspurt nähert, erweist sich Barack Obamas konservativer Herausforderer Mitt Romney immer mehr als Champion der Peinlichkeiten.

Nachdem er auf seiner Auslandsreise in Europa und in Israel bereits durch totales Unwissen und einen gravierenden Mangel an Taktgefühl aufgefallen war, beschimpft er jetzt schamlos die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung.

Michelle Cloos mcloos@tageblatt.lu

Im Juli hatte Romney die Briten beleidigt, als er London völlig zu Unrecht eine unzureichende Vorbereitung auf die Olympischen Spiele bescheinigt hatte, anschließend legte sich ein Berater des US-Präsidentschaftsbewerbers in Warschau mit Journalisten an und zum krönenden Abschluss stellte er die Palästinenser als unterlegenes Volk dar und erklärte Jerusalem kurzerhand zur Hauptstadt Israels. Diese wiederholten Tritte ins Fettnäpfchen haben Romneys internationales Ansehen zwar stark beeinträchtigt, allerdings spielt Außenpolitik im US-Wahlkampf leider nur eine geringe Rolle.

Doch nun vermasselt es der Präsidentschaftsanwärter auch innenpolitisch und manövriert sich ins Abseits. Auf einem Spenden-Dinner mit wohlhabenden Gönnern ließ sich Romney über Obamas Wähler aus. 47 Prozent der Wähler würden sowieso für den amtierenden Präsidenten stimmen, weil sie vom Staat abhängig seien und keine Steuern zahlten, meinte Romney.

Romney und die Steuern

Empört zeigte sich der Republikaner darüber, dass ein US-Bürger glauben könnte, er hätte ein Recht auf Gesundheitsfürsorge, auf Lebensmittel oder eine Wohnung. Für den ultra-liberalen Kandidaten, der die Unterstützung von Goldman Sachs und Co. genießt, ist die Idee eines Sozialstaats bekanntlich ein ganz fürchterliches Gräuel.

Durch solch arrogante und herablassende Aussagen dürfte Romney wohl die Gunst der amerikanischen Mittelklasse verlieren. Denn es handelt sich hierbei nicht bloß um einen weiteren Patzer, diese Behauptungen offenbaren die hochnäsige und realitätsfremde Denkweise des Republikaners.

Auch zeigte der Kandidat keinerlei Reue für seine Beschimpfungen, die quasi die Hälfe der Bevölkerung als Sozialschmarotzer darstellen. Nachdem das Video mit der umstrittenen Rede an die Öffentlichkeit gelangt ist, bedauert er zwar die Form, betont jedoch, dass er zum Inhalt der Aussagen stehe.

In der Zwischenzeit haben die amerikanischen Medien recherchiert und herausgefunden, dass Romneys Beschuldigungen nicht nur grotesk, sondern auch noch grundlegend falsch sind. So fand die amerikanische Referenzzeitung New York Times umgehend heraus, dass es sich bei den 18,1 Prozent (und nicht 47 Prozent) der Haushalte, die gar keine Steuern zahlen, um Familien mit geringem Einkommen und um alte Leute handelt. Wer selbst kein Geld hat und nur mit Mühe über die Runden kommt, kann logischerweise auch keine Steuern zahlen.

Gerade bei diesem Thema hätte Romney sich wohl besser zurückgehalten. Immerhin zahlt der Multimillionär – der sich bis ans Ende seines Lebens niemals Gedanken über finanzielle Probleme machen muss – selbst nur knapp 14 Prozent Steuern. Er profitiert nämlich davon, dass Kapitaleinkommen nicht annähernd so hoch besteuert werden wie Einkünfte aus Arbeit.

Obamas Wahlkampfteam dürfte am Dienstag wohl ausgiebig gefeiert haben. Denn es passiert nicht jeden Tag, dass ein Präsidentschaftkandidat die Hälfte einer Nation ungeniert vor den Kopf stößt, indem er sie pauschal zu verantwortungslosen Parasiten deklariert und somit seine eigene Glaubwürdigkeit zerstört.