Das wollte ich dir eigentlich schon seit Längerem sagen, liebes Tagebuch. Die Covid-19-bedingte Selbstisolation hat tatsächlich ihre guten Seiten. Und ich meine damit jetzt nicht, dass man endlich die vor langer Zeit gekauften Bücher lesen, Filme oder Dokus streamen oder, altmodisch, alte DVD anschauen kann. Nein, ich persönlich, und das darf ich dir ja anvertrauen, da es unter uns bleibt, also ich genieße den Verzicht aufs Händeschütteln, jene Tradition, die stets auflebt, wenn man auf der Straße oder im Supermarkt Bekannte trifft. Nicht dass ich es mich nicht erfreut, bekannte Gesichter wiederzusehen, aber warum unbedingt der physische Kontakt folgen muss, und sei er auch nur wenige Sekunden lang, war mir stets unerklärlich. Ein paar nette Worte austauschen oder seine freundlichen Absichten zum Ausdruck bringen geht auch ohne.
Problematisch fand ich die Angelegenheit insbesondere, wenn man bei irgendwelchen offiziellen Ereignissen oder Veranstaltungen wildfremden Menschen die Pfote reichen musste, von denen man vom ersten Augenblick an wusste, dass man sie nie mehr wiedersehen werde. Regelrecht unangenehm wurde das jedoch bei jenen Ansammlungen, wo zuerst Dutzende Hände geschüttelt werden mussten, bevor es zum Büfett kam. Wie viele Viren und anderes Zeug dabei ausgetauscht wurden, möchte ich mir nicht vorstellen.
Wobei von Händeschütteln reden vielleicht übertrieben ist. Meist war es ja bloß ein leichtes, verlegenes Aneinandervorbeistreichen zweier Handflächen. Das beherzte feste Zupacken gab es eigentlich, zumindest im Süden des Landes, nur bei jenen Zeitgenossen, die wirklich noch durch ihrer Hände Arbeit ihr Leben verdienten. In Erinnerung ist mir jener ehemalige Grubenarbeiter geblieben, der durch festes Zukneifen seine Kraft zeigen wollte und dabei verschmitzt ins Gesicht seines Gegenübers blickte, auf der Suche nach etwaigen Schmerz bedingten Regungen.
Wenn wir schon an frühere Zeiten zurückdenken, liebes Tagebuch, so muss ich dir auch sagen, ich finde die Reaktionen der Menschen auf Covid-19 und die regierungsseitig diktierten Maßnahmen eigentlich recht zahm. Nicht zu vergleichen mit jenen, die 1986, ebenfalls im April, die Reaktorkatastrophe im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl auslösten. Ja, auch damals war der „Feind“ unsichtbar. Radioaktivität lässt sich genauso wenig wie das Virus sehen, schmecken und anfassen. Aber damals war wirklich der Teufel los. Da trauten sich Menschen nicht mehr in den Wald. Ihr Gartengemüse wollten sie nicht mehr verzehren. Milch und andere Agrarerzeugnisse wurden auf ihre Strahlenwerte gemessen. Was heute in den Diskussionen Covid ist, hieß damals Becquerel.
Die radioaktive Wolke, die damals aus dem Osten über den Eisernen Vorhang hinweg gen Westen zog, sorgte für regelrechte Panikstimmung. Insbesondere bei unseren deutschen Freunden. Da wurde schon mal der Sandkasten der Kinder mit einer Plastikplane zugedeckt, damit keine radioaktiv verseuchten Regentröpfchen dorthin gelangen konnten. Der eine oder andere erinnert sich vielleicht noch daran, dass die bedrohliche Wolke anders als Covid-19 Frankreich verschonte. Wie heute bei Corona die Deutschen hatten die Franzosen damals ihre Grenze dichtgemacht. Paris hatte dekretiert, dass die Tschernobyl-Radioaktivität Frankreich umfliegen müsse. Klar doch, das mit Atomreaktoren vollgepackte Frankreich wusste schon damals, wie man mit derartigen Gefahren umgeht.
Tschernobyl beschäftigte uns Westeuropäer noch Monate, nachdem Tausende sowjetische „Liquidatoren“ unter Einsatz ihres Lebens das Feuer im explodierten Reaktorblock 4 bereits längst gelöscht hatten. Doch die uns auferlegten Opfer waren kaum vergleichbar mit jenen der Einwohner der verstrahlten Stadt Prypjat, die Hals über Kopf Haus und Hof verlassen mussten. Wir mussten lediglich während längerer Zeit auf den Verzehr von Waldpilzen verzichten.
Abschließen möchte ich, liebes Tagebuch, mit einer optimistischen Bemerkung. Wir werden dieses Virus vergleichsweise schneller als so manch anderes Unheil besiegen. Ein wirksamer Impfstoff wird wohl in einem, zwei oder drei Jahren erhältlich sein. Seine Radioaktivität wird das Tschernobyl-Gebiet nicht so schnell los.
Das Tageblatt-Tagebuch
Das Leben ist, wie es ist. Corona hin oder her. Klar, die Situation ist ernst. Aber vielleicht sollte man versuchen, ein wenig Normalität in diesem Ausnahmezustand zu wahren. Deshalb veröffentlicht das Tageblatt seit dem 16. März (s)ein Corona-Tagebuch. Geschildert werden darin persönliche Einschätzungen, Enttäuschungen und Erwartungen verschiedener Journalisten.
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