Clément Gonin mag keine Überraschungen, wenn es um Fußball geht. Der neue Videoanalyst der FLF verbringt den Rückflug nach Luxemburg am Rechner. Es läuft: Das Länderspiel der Litauer, nächster Gegner der „Roten Löwen“. Gestresst wirkt der junge Franzose nicht. Der Beruf, den er in Southampton und bei Paris Saint-Germain gelernt und perfektioniert hat, ist in Fleisch und Blut übergegangen. Routine, sozusagen.
Dabei hat Clément Gonin zunächst ganz andere Karrierepläne. Nach den ersten beiden Jahren des Ingenieur-Studiums sieht er in diesem Bereich keine Zukunft – und entscheidet sich, den Weg der Sportwissenschaften einzuschlagen. Fußball sei schon immer eine Leidenschaft der Familie gewesen. Nach einer „Licence“ in Frankreich wechselt er für das Master-Studium an die Chichester-Universität. Dort wird die Berufswahl konkreter. „Analysiert haben wir im Studium alles: Cricket, Basketball, Fußball.“ Nur einmal pro Woche drückt er die Schulbank, den Rest verbringt er beim Premier-League-Klub. Die erste Festeinstellung beim PSG und der Wechsel nach Le Havre in diesem Sommer ermöglichen ihm, unterschiedliche Rahmenbedingungen kennenzulernen. Als Nachfolger von Samir Chamma (der Sportkoordinator bei Auxerre wurde) beim Luxemburger Verband kommt vor ein paar Monaten eine neue Kulisse dazu.
Es ist Athletik-Coach Claude Origer, der seine internationalen Beziehungen spielen lässt. Vier Telefonnummern werden der FLF vorgeschlagen – eine der Personen, die Luc Holtz über WhatsApp anschreibt, ist der 25-Jährige. „Ich kannte den Trainer nicht“, gibt Gonin zu. Doch der Funke springt direkt über, auch aufgrund des Zeitdrucks vor dem Nations-League-Auftakt im Juni. „Der Beruf des Videoanalysten ist noch immer prekär. Wenn man irgendwo eine Chance bekommt, nutzt man sie. Das war zwar nicht unbedingt mein Gedanke, da meine Situation im Klub gesichert war. Es war eher der Wunsch, mit dem Trainer und einem Team zusammenzuarbeiten, das immer mehr Anerkennung für seine Spielweise bekommt.“ Oder, um es ganz klar auszudrücken: „Eine Nationalelf ist logischerweise das Beste vom Besten.“
Seine Philosophie, etwas Interessantes auf dem Spielfeld zu bieten, überschneidet sich zu hundert Prozent mit der des Nationaltrainers. Direkten Kontakt mit dem Coach hat er während des Spiels aber nur während der Viertelstunde in der Kabine. Kommunizieren darf er während 90 Minuten nur mit den Assistenten – sei es über teils raschelnde Walkie-Talkies oder WhatsApp. „Besonders bei der Nationalelf muss man sich an die Gegebenheiten des Landes anpassen. Internet außerhalb der EU ist schwierig.“ Eine Anspielung auf die Roaming-Kosten in der Türkei. „In der Kabine haben wir die Bilder dann auf dem iPad. Es sind meist Schlüsselbilder des Matchplans.“
Was Holtz dort sehen will, kann Gonin genau einschätzen. „Einerseits ist es die Erfahrung, aber auch Kontext. Man weiß, worauf man aufpassen muss.“ Reaktionsschnelligkeit, Anpassungsvermögen, Fußballkenntnisse: Gonin muss zu jedem Moment in der Lage sein, die TV-Bilder zurechtzuschnippeln. „Manchmal gibt es auch Anfragen von der Bank. Ihr Blick auf den Rasen ist komplett unterschiedlich zu dem, was ich von den Tribünen aus mitbekomme. Sie spüren die Energie, die Wahrheit der Partie unten ganz anders.“
Bei der FLF-Auswahl ist er aber nicht nur als Lieferant für die Pause zuständig, sondern ebenfalls für das Bildmaterial im Vorfeld. Als Kenner der Ligue 1 stellen Profis wie Cengiz Ünder (Olympique Marseille) absolut keine Unbekannte für ihn dar. Anders sieht das allerdings bei der Litauen-Recherche aus. „Man muss die Formkurve der gegnerischen Spieler kennen. Die kann das Ganze beeinflussen, wenn er die Postion gewechselt hat und sich Eigenschaften antrainiert hat, die er vorher nicht so hatte. Wenn man dann die Aufstellung des Gegners in den Händen hat, weiß man meistens schon, was deren Trainer plant und erwartet. Ich verfolge ihre Leistungen aufgrund der Daten.“
Phasen der ruhenden Bälle besonders wichtig
In Luxemburg hat er freie Hand. Andere Nationen, wie etwa Frankreich oder England, können auf ein komplettes Team zurückgreifen – das sogar den Jugendmannschaften zur Verfügung steht. „Verein und Nationalmannschaft sind nicht vergleichbar. Klar, es bleibt der identische Job, aber der Kontext ist anders.“ Besonders das Vergleichsmaterial fehlt: „Meist gibt es bei den Nationalmannschaften große Personalwechsel, beispielsweise wegen Blessuren oder des Formtiefs eines Spielers. Man hat eigentlich nur ein oder zwei Spiele, auf Basis derer man die Analyse erstellen muss und die Schwächen finden sollte. Bei einem Rückspiel ist das einfacher.“ Bis zu zwanzig Minuten Bildmaterial kann Gonin für Holtz auswählen. Mit viel Informationen können die Spieler wiederum wenig anfangen.
Die Erwartungen der Coaches – sei es Holtz oder vorher Thomas Tuchel beim PSG – sind trotzdem die gleichen: „So viel wie möglich über die individuellen und kollektiven Stärken des Gegners herauszufinden. Besonders wichtig sind die Phasen der ruhenden Bälle. Das Ziel ist, nicht überrascht zu werden. Manchmal macht man ein paar Sachen umsonst– aber eigentlich hilft es, nicht überrumpelt zu werden, wenn man weiß, was der Gegner bei einer bestimmten Ballzirkulation plant.“ Im Klartext: Die Analyse bezieht sich immer auf die „Roten Löwen“ und deren Anhaltspunkte. Sowohl die Türkei als auch Litauen stellt Gonin aufgrund seiner Bilder so dar, dass Luxemburg sowohl offensiv als auch defensiv das Maximum herausziehen kann.
Sich dadurch selbst als „Matchwinner“ beschreiben, das will der 25-Jährige nicht. Es sei auch nicht seine Aufgabe, ein Fan der Spieler zu sein. Dass ihm das neue Umfeld gefällt, bestreitet er allerdings nicht. Die nächste Aufgabe steht bereits fest: „Nach der Auslosung der EM-Qualifikationsgegner beginnt die Recherche.“
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