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KolumneParis-Roubaix darf nicht sterben: Über die dreimalige Verlegung meines Lieblingsrennens

Kolumne / Paris-Roubaix darf nicht sterben: Über die dreimalige Verlegung meines Lieblingsrennens
Regelmäßig sorgen die „Amis de Paris-Roubaix“ dafür, dass die Kopfsteinpflaster-Passagen erneuert werden Foto: Amis de Paris-Roubaix

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Seit etwas mehr als einem Jahr hat die Pandemie den Sport fest im Griff. Und mit ihm diejenigen, die über ihn berichten. Eigentlich sollte ich heute in Compiègne bei der Vorstellung der Mannschaften sein, die an Paris-Roubaix teilnehmen. Und am späten Sonntagnachmittag im „Vélodrome André Pétrieux“, der Beton-Radrennbahn im Norden Frankreichs, wo dem Sieger auf dem Podium traditionsgemäß ein Pflasterstein als Trophäe überreicht wird. – „Penses-tu!“

Der Klassiker Paris-Roubaix, neben Mailand-Sanremo, der „Ronde van Vlaanderen“, Liège-Bastogne-Liège und „Il Lombardia“ eines der fünf Monumente des Radsportkalenders, ist das jüngste Opfer von Covid-19. Abgesagt und verlegt auf den 3. Oktober. Die Sache an sich wäre nur halb so schlimm, wenn die politischen Entscheidungsträger eine klare Linie hätten und den Sport in diesen tristen Zeiten nicht nach Gutdünken mal erlauben, mal verbieten würden.

„Confinement“

Das letzte Paris-Roubaix fand am 13. April 2019 statt, es siegte Philippe Gilbert im Sprint vor Nils Politt. Insgesamt war es der 56. belgische Erfolg bei diesem Klassiker, aber erst der vierte eines wallonischen Fahrers nach Emile Masson (1939), Pino Cerami (1960) und Emile Daems (1963). Danach missglückten die Versuche, Paris-Roubaix ein weiteres Mal über die Distanz zu bringen. So kann Gilberts Nachfolger frühestens zwei Jahre, fünf Monate und 19 Tage nach dem Sieg des Belgiers ermittelt werden. Vorausgesetzt, Corona und die Politik spielen mit.

Die 118. Auflage des Klassikers im Norden Frankreichs sollte eigentlich schon letztes Jahr, am 12. April, über die Bühne gehen. Am 15. März 2020 aber bat die UCI die Organisatoren, wegen Covid-19 alle Rennen abzusagen, die in Risikozonen ausgetragen würden. Zwei Tage später begann in Frankreich das erste „Confinement“, Paris-Roubaix fiel ihm zu Opfer. Die Pandemie zwang nicht nur die „Reine des classiques“ in die Knie. Alle Rennen des World-Tour-Kalenders wurden in den Sommer und in den Herbst verlegt, Paris-Roubaix auf den 25. Oktober, mitten in die Vuelta und auf den Schlusstag des Giro d‘Italia! Zusätzlich zum Männerrennen sollte erstmals auch ein Wettbewerb für Frauen stattfinden. 

Das Machtwort des „Préfet“

Dazu aber kam es nicht, denn Frankreich wurde von einer zweiten Corona-Welle „überflutet“. Anfang Oktober waren die Inzidenzzahlen im Norden des Hexagons und insbesondere der „Métropole européenne“ von Lille so hoch, dass Organisator Amaury Sport Organisation (ASO) sich gezwungen sah, beide Veranstaltungen abzusagen. Paris-Roubaix war das einzige sogenannte „Monument“, das 2020 nicht ausgetragen wurde. Bisher konnten nur die beiden Weltkriege das Rennen stoppen.

Der nächste Anlauf, die 118. Auflage des Klassikers unter Dach und Fach zu bringen, sollte morgen Sonntag genommen werden. Angesichts der vielen Rennen, die seit Anfang des Jahres problemlos in Europa über die Straßen rollen, rechnete in Frankreich eigentlich niemand mit einer weiteren Absage. Als die sanitäre Lage sich aber im März verschlechterte und Präsident Emmanuel Macron ein verschärftes „Confinement“ bis Ende April ankündigte, kam Paris-Roubaix erneut ins Wanken. 

Obwohl ASO gewillt war, das Rennen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu veranstalten, 1.300 zusätzliche Polizisten zu mobilisieren und verschiedene „Pavé“-Sektoren aus dem Streckenplan zu streichen, winkte der „Préfet du Nord et des Hauts-de-France“, Michel Lalande, ab. Am 1. April wurde Paris-Roubaix auf Sonntag, den 3. Oktober verlegt.

Belgien denkt anders

Die Haltung Lalandes wurde von verschiedenen Lokalpolitikern zwar scharf kritisiert, doch scheint sie verständlich, wenn man die allgemeine Corona-Lage in Frankreich und den auf das ganze Land ausgeweiteten „Lockdown“ in Betracht zieht. Dem kann man allerdings entgegnen, dass am letzten Sonntag auf der anderen Seite der Grenze die Flandern-Rundfahrt unter dem von Carina Van Cauter, der Gouverneurin Ostflanderns, herausgegebenen Motto „Red de Ronde en blijf thuis!“ („Rette die ‚Ronde‘ und bleib zu Hause“) ohne Zwischenfälle bestritten werden konnte. Belgiens Radsportfans hielten sich (mit wenigen Ausnahmen) an die vorgeschriebenen Regeln und sahen sich das Rennen am Bildschirm an.

Wie es am 3. Oktober mit Paris-Roubaix weitergeht, weiß im Moment niemand. Vieles hängt natürlich von der Entwicklung der Corona-Infektionen ab, die bis dahin durch die Impfung eines Großteils der Bevölkerung zurückgegangen sein müssten. Das letzte Wort dürfte in sechs Monaten also einmal mehr die Politik haben. Dagegen tun François Doulcier, der Präsident der „Amis de Paris-Roubaix“, und seine Mannschaft alles, um durch ständige Erneuerung der Kopfsteinpflaster die praktischen Voraussetzungen zu schaffen, damit das Rennen in seiner jetzigen Form überleben kann.

Goddets Unzufriedenheit

Vor über 50 Jahren stand Paris-Roubaix schon einmal auf der Kippe und wurde auf wundersame Weise durch die Eingliederung einer Waldschneise gerettet. Inzwischen ist die „Trouée“ oder „Tranchée d‘Arenberg“, wie der frühere Journalist von L’ Equipe Pierre Chany sie umtaufte, zum Mythos geworden. Innert fünf Jahrzehnten wurde sie weltweit zur berühmtesten Passage eines Radrennens und ist seitdem so eng mit Paris-Roubaix verbunden, dass sie nicht mehr aus dem Parcours wegzudenken ist.

Die Geschichte, wie es zur Eingliederung der „Trouée“ in die „Reine des classiques“ kam, liest sich wie ein Märchen. Am Ursprung stand Jacques Goddet, der Direktor der Tour de France und Chef von L’ Equipe, die damals Organisator von Paris-Roubaix war. Wir schreiben den 10. April 1967. Tags zuvor hatte der Holländer Jan Janssen den Klassiker im Nordosten Frankreichs gewonnen, er schlug im Sprint einer Zehnergruppe, der vier Weltmeister, drei nationale Meister, ein Giro-Sieger und ein Träger des „Maillot vert“ der Tour de France angehörten, der Reihe nach Rik Van Looy und Rudy Altig. 

Trotz dieser klangvollen Namen auf dem Podium seines Klassikers war Goddet nicht zufrieden. Das Rennen hatte sich bis Mons-en-Pévèle dahingeschleppt, die Durchschnittsgeschwindigkeit betrug am Ende nur 36,824 km/h. 

Bouvet und Stablinski

Hinzu kam, dass die in diesem Teil Frankreichs schnell vorangetriebene Asphaltierung vieler „Pavé“-Abschnitte dem Rennen seine Seele zu nehmen drohte. Und so schickte Goddet seinen „Leutnant“ Albert Bouvet, den Vater des pensionierten Journalistenkollegen Philippe Bouvet, hinaus, um neue Kopfsteinpflasterpassagen ausfindig zu machen, die Paris-Roubaix zu mehr Pep verhelfen sollten.

Bouvet, ein früherer Sieger von Paris-Tours (1956), zögerte nicht lange und rief seinen Freund Jean Stablinski an, den viermaligen französischen Meister und Weltmeister von Salò 1962, der in der Nähe von Valenciennes wohnte. Gemeinsam mit Edouard Delberghe, einem weiteren Profi aus dem Norden, gingen sie auf Erkundungstour, zuerst nach Neuvilly, dann nach Aulnoy, Querénaing und weiter in den Wald von Saint-Amand-les-Eaux, den Stablinski aus dem Effeff kannte, weil er oft in Raismes weilte und als junger Mann in der Grube von Arenberg arbeitete. 

Hier überraschte Stablinski seine beiden Kollegen mit einem „Prunkstück“, einer 2,4 km langen schnurgeraden Schneise durch den Wald, belegt mit Kopfsteinpflastern, die eine Kantenlänge von rund 30 Zentimetern hatten. 

„Drève des Boules d’Hérin“

Als Sechzehnjähriger war Stablinski täglich über diesen holprigen Weg in die Bergbaumine gefahren. Bouvet kam aus dem Staunen nicht heraus, er nahm als Beweis einen Pflasterstein mit, schoss ein paar Fotos und legte sie dem Chef hin. „Ich habe um eine Strecke mit Pavés gebeten und nicht um Schlammlöcher“, so Goddets lakonischer Kommentar. „Unser Streben muss es sein, mindestens einen Fahrer in Roubaix über die Ziellinie zu bekommen …“

Am 7. April 1968 feierte die „Trouée d’Arenberg“, die eigentlich hochoffiziell „Drève des Boules d’Hérin“ heißt und im Volksmund „Les pavés d’Hasnon“ genannt wird, Premiere bei Paris-Roubaix. Fünf Belgier belegten die fünf ersten Plätze. Eddy Merckx gewann vor Herman Van Springel, Walter Godefroot, Edward Sels und Victor Van Schil. Raymond Poulidor wurde Sechster, während Philippe Crépeil als 44. und Letztklassierter 41’37“ Rückstand hatte. Unter den 136 Gestarteten war auch der fast 36-jährige Jean Stablinski. Er klassierte sich als 24. mit einem Rückstand von 8’24“. Nicht weniger als 92 Fahrer steckten auf. 

Auf und unter der „Trouée“

Jean Stablinski, der am 21. Mai 1932 als Jean Stablewski in Thun-Saint-Amand geboren wurde und am 22.7.2007 in Lille starb, ist der einzige Mensch, der als „galibot“ (junger Minenarbeiter) nicht nur unter dem gepflasterten Waldweg von Arenberg schuftete, sondern als Profifahrer ebenfalls auf dieser „Straße“ tätig war. Nach seiner aktiven Karriere leitete „Stab“ als Teammanager zuerst die Sonolor-Lejeune- und danach die Gitane-Mannschaft. Auch in späteren Jahren machte er regelmäßig einen Abstecher in die Tour de France und war im Jahr 2000 sogar eine Zeit lang der geschätzte Chauffeur Ihres Kolumnisten. 

„Mein Vater starb im Krieg, ich war noch sehr jung“, erzählte Stablinski. „Für meine Mutter gab ich später eine Heiratsanzeige auf. Ein Bergarbeiter polnischer Abstammung, so wie wir, meldete sich, er hatte eine Tochter. Der Bergarbeiter wurde mein zweiter Vater und seine Tochter Génia meine Frau. Das Leben ist manchmal undurchschaubar.“ 

Am Tag, als der Regen kam

Zu Ehren Stablinskis wurde im Frühjahr 2008 ein Gedenkstein an der „Einfahrt“ zur „Trouée d’Arenberg“ eingeweiht. Die 2.400 m lange Strecke, die in über 50 Jahren erst 41 Mal bei Paris-Roubaix befahren wurde (sie musste zeitweise wegen Baufälligkeit gesperrt werden), hat so manches Drama miterlebt. So beispielsweise im Jahr 1998, als der große Favorit Johan Museeuw (Sieger 1996, 1998, 2002) schwer stürzte und man tagelang um sein Leben bangen musste. 

An 2002 dürfte sich wohl auch der damalige Cofidis-Profi und heutige Sportverantwortliche von RTL-Télé Lëtzebuerg, Tom Flammang, erinnern. Damals peitschte der Wind den Konkurrenten ins Gesicht, es regnete in Strömen. Die Folge war eine Wasser- und Schlammschlacht mit Johan Museeuw als Sieger vor Steffen Wesemann und dem jungen Tom Boonen. Tom Flammang klassierte sich auf dem 19. Rang (9‘11“ Rückstand). Im Velodrom schenkte er Ihrem Kolumnisten seine verdreckte Mütze. Fein säuberlich gewaschen, hat diese seit 19 Jahren einen Ehrenplatz in dessen Andenkenschrank.

max
13. April 2021 - 12.20

ëch fannen ët Schued, dat esou vill Cours'en ausfaalen, oder wèi den TDF läscht Joer verreckelt gouf, an de Beweis ass jo do, kee Problem, ausser dem ChP an 2 Coureuren, am Juni soll den Tour jo ufänken, kucke wei ët viiru geet. a wann ee bedenkt, wéivill aaner Saachen duerchgin, am Allgemengen am Liwen an am Alldag

de Prolet
11. April 2021 - 10.34

Bravo für diesen sehr informativen Artikel über diesen einmaligen Klassiker seiner Art. Übrigens wird niemand gezwungen an dem Kopfsteinpflaster-Rennen teilzunehmen. Gäbe es Paris-Roubaix nicht, müsste es erfunden werden, nicht nur für's Vergnügen der Zuschauer.

HTK
10. April 2021 - 12.34

Als wäre ein Profirennen nicht schon schwer genug,müssen die Jungs auch noch ihre Gesundheit riskieren indem sie über Kopfsteinpflaster holpern müssen.Alles zum Vergnügen der Zuschauer. Morituri te salutant