Europa und Kultur taugen als Reizwörter. Bei einigen Zeitgenossen führen sie mitunter zu Übelkeit. Mit diesem Problem hat Esch2022, diesjährige europäische Kulturhauptstadt, zu kämpfen – die Partnerstadt Kaunas in Litauen offenbar weniger. Woran das liegen mag, ist nicht einfach zu beantworten. Vielleicht ist die Bevölkerung in Litauens zweitgrößter Stadt jünger, hungriger nach Kunst, weniger verwöhnt oder gar sich der Bedeutung von Kultur als Ausdruck von Freiheit und Unabhängigkeit stärker bewusst?
Es liegt unter Umständen aber auch nur daran, dass in Kaunas das Kulturangebot viel selbstverständlicher scheint, näher an den Menschen. Es ist einfach da, unkompliziert im Stadtzentrum zu finden und ohne Schnickschnack zu „konsumieren“. Bei Esch2022 wirkt vieles irgendwie aufgesetzter, komplizierter und weniger zugänglich. Dabei muss man allerdings einwenden, dass diese kleinen Hürden mit etwas weniger Bequemlichkeit, Arroganz oder vorgefertigter Meinung und mit mehr Begeisterung und Empathie durchaus zu meistern sind.
Worüber man wirklich nachdenken sollte, auch im Hinblick auf kommende Kulturhauptstädte, ist die Frage, ob ein dezentralisiertes Angebot wirklich sinnvoll ist. Ja, die Idee, das Programm von Esch2022 auf mehrere Gemeinden zu verteilen, ist in vielerlei Hinsicht gut. In der Theorie. An der Praxistauglichkeit aber darf man zweifeln. Was man allerdings nicht tun sollte, ist verzweifeln. Denn letztendlich ist das, was jetzt in Esch und in den teilnehmenden Gemeinden sowie in den anderen Kulturhauptstädten passiert, weniger wichtig als das, was hängen bleibt und daraus entstehen wird. Damit sind weder neue Kulturzentren noch eine weitere Philharmonie oder Rockhal gemeint, sondern ein nachhaltiges und vor allem jedem zugängliches Kulturangebot – in bestehender Infrastruktur.
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