Die vergangenen fünf Jahre haben es mit den außenpolitischen Zukunftsperspektiven der Europäischen Union nicht gut gemeint. Eine neue Konkurrenz der Großmächte schiebt die regelgestützte internationale Ordnung beiseite und verschiedene Aspekte der Globalisierung – vom Handel bis hin zum Internet – werden genutzt, um Länder zu dividieren statt zu einen. Zugleich hat sich die geostrategische Nachbarschaft der EU zu einem Ring des Feuers entwickelt.
Von Mark Leonard*
Diese Herausforderungen spiegeln primär eine Verschiebung im globalen Machtgleichgewicht wider, die die außenpolitische Orientierung der USA grundlegend verändert hat. Wie vom „European Council on Foreign Relations“ in einem neuen Bericht erklärt, haben globale Entwicklungen die EU-Länder zunehmend anfällig für externen Druck gemacht, was sie daran hindert, ihre Souveränität auszuüben.
Diese Anfälligkeit bedroht die Sicherheits-, Wirtschafts- und diplomatischen Interessen der EU, indem sie es anderen Mächten ermöglicht, ihr ihre Präferenzen aufzuzwingen. Verschlimmert wird die Sache noch dadurch, dass die Lenkungsorgane der EU kaum etwas unternommen haben, um die Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten zu überwinden, und dass sie bei der Reaktion auf Krisen wie jenen in der Ukraine, Syrien und Libyen keine bedeutsame Rolle gespielt haben.
Mit der Nominierung von Josep Borrell zum Hohen Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik hat die EU nun Gelegenheit, ihre Außenpolitik neu auszurichten. Die Aufgabe von Borrell, dem gegenwärtigen Außenminister Spaniens (das selbst eines der neuen Machtzentren der EU ist), wird darin bestehen, EU-Institutionen und nationale Außenministerien hinter einer gemeinsamen Außenpolitik auf EU-Ebene zu einen.
Drei Herausforderungen
Darüber hinaus stellen sich Borrell drei Herausforderungen. Die erste besteht darin, Europas strategische Souveränität sicherzustellen. Borrell wird dabei vom ersten Tag an Strategien zur Bewältigung der leidigsten diplomatischen und sicherheitspolitischen Probleme entwickeln müssen. Das reicht von den von Russland und China ausgehenden Bedrohungen bis hin zu potenziellen Pulverfässern in Syrien, Afrika und auf dem Balkan.
Borrell muss einen neuen Kurs voran abstecken und darf dabei weder abweichende Ansichten von Mitgliedstaaten ignorieren noch sich mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner dessen zufrieden geben, was alle Mitglieder für akzeptabel erklären. Hierzu sollte Borrell in Betracht ziehen, eine Paketlösung anzubieten, die dem vom Europäischen Rat bei der Nominierung einer neuen EU-Führung vereinbarten Arrangement ähnelt.
Ein derartiger Kompromiss sollte eine harte Haltung gegenüber Russland mit einem kreativen Engagement an der Südflanke der EU in Einklang bringen. Die EU braucht nicht zwangsläufig neue außenpolitische Strategien, aber sie braucht neue Mechanismen zur Umsetzung ihrer Agenda sowie eine kompetente Führung, die Vertrauen bei allen Mitgliedstaaten wecken kann. Bei der neuerlichen Geltendmachung der Souveränität der EU wird der neue Hohe Vertreter es mit vielerlei zu tun bekommen – von Sekundärsanktionen der USA und dem Einsatz des Dollars als Waffe bis hin zu den wachsenden, von virtueller und hybrider Kriegsführung gekennzeichneten Bedrohungen aus aller Welt.
Idee eines „europäischen Sicherheitsrates“
Borrells zweite wichtige Herausforderung wird darin bestehen, die europäische Verteidigung wieder funktionsfähig zu machen. Während die EU Fortschritte bei der Einleitung verteidigungsrelevanter industrieller Projekte gemacht hat, haben ihre operativen Fähigkeiten abgenommen. Um ihrer Russland zugewandten Flanke wieder ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, werden alle Mitgliedstaaten ihre Präsenz dort ausweiten müssen. Schon die Einrichtung eines kleinen „Camp Charlemagne“ in Polen wäre eine wirkungsstarke symbolische Geste.
Die Europäer sollten zudem bestimmte Militäroperationen von den USA übernehmen. Hierzu gehört nicht zuletzt die Mission im Kosovo, wo sie bereits die meisten Truppen stellen. Zudem wird die EU angesichts des US-Vetos gegen die UN-Unterstützung der G5 Sahel (Burkina Faso, Tschad, Mali, Mauretanien und Niger) und dem potenziell in Planung befindlichen US-Truppenabzug aus einigen dieser Länder womöglich ihre Präsenz in Afrika ausweiten müssen.
Tatsächlich könnte dies für den Hohen Vertreter ein guter Zeitpunkt sein, um die ursprünglich von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron im vergangenen Herbst aufgebrachte Idee eines „europäischen Sicherheitsrates“ wieder aufzugreifen. Ein derartiges Gremium könnte ein Forum für ehrliche strategische Diskussionen zwischen den Mitgliedstaaten bieten und zugleich den diplomatischen Dialog mit dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit anführen.
Die EU als geeinter Block
Borrells dritte Herausforderung wird darin bestehen, das Vertrauen zwischen den Außenministerien der Mitgliedstaaten und dem Europäischen Auswärtigen Dienst wiederherzustellen. Er kann unmöglich alle außenpolitischen Probleme der EU allein in Angriff nehmen; er braucht ein starkes Team und breit aufgestellte Unterstützung innerhalb der EU. Bei der Ernennung seiner Stellvertreter sollte er Kommissionsmitglieder auswählen, die bereits ein Mandat haben, das wichtige regionale Fragen zur Sahelzone, zum Balkan und zur Östlichen Partnerschaft abdeckt.
Noch besser wäre es, wenn Borrell einzelnen Außenministern konkrete politische Probleme überträgt; diese Ministerien müssten dann an die Mitgliedstaaten und das Politische und Sicherheitspolitische Komitee der EU berichten. Es gibt hierfür einige Präzedenzfälle; so übertrug etwa die frühere Hohe Vertreterin Catherine Ashton dem polnischen Außenminister Radek Sikorski und dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier das Mandat für Georgien und Sikorski und dem schwedischen Außenminister Carl Bildt später dann das Mandat für die Republik Moldau.
EU sollte kein Spielball für andere Großmächte sein
Und schließlich sollte Borrell in Betracht ziehen, Kerngruppen von Mitgliedstaaten mit der Ausrichtung von Workshops zu strittigen Themen zu beauftragen. Das Ziel sollte dabei in der Ermittlung gemeinsamer Positionen und der Anhebung des kleinsten gemeinsamen Nenners bestehen. Zumindest könnte so jeder Mitgliedstaat ein Eigeninteresse vertreten, was die Mitglieder möglicherweise davon abhalten könnte, EU-Verfahren zu missbrauchen oder einseitige Maßnahmen zu verfolgen.
Durch Übernahme der oben skizzierten breit gefassten Agenda könnte Borrell der EU helfen, sich den Herausforderungen der kommenden Jahre als geeinter Block zu stellen. Sein wichtigstes Ziel sollte darin bestehen, Europas strategische Souveränität sicherzustellen.
Die EU ist noch immer der größte Markt weltweit, umfasst einige der größten nationalen Hilfebudgets, hat weltweit die zweitgrößten Verteidigungsausgaben und kann das größte diplomatische Korps einsetzen. Wenn sie es schafft, diese Aktiva in den Dienst einer umfassenderen strategischen Agenda zu stellen, kann sie im 21. Jahrhundert selbst ein Global Player werden, statt einen Spielball für andere Großmächte abzugeben.
* Mark Leonard ist Direktor des „European Council on Foreign Relations“ und zusammen mit Carl Bildt Mitverfasser des ECFR-Berichts „From Plaything to Player: The Next 5 Years in European Foreign Policy“.
Aus dem Englischen von Jan Doolan.
Copyright: Project Syndicate 2019
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