Unsere Gesellschaft steckt voller Widersprüche. Freiheit muss man sich leisten können. Gleichheit scheitert an Herkunft, Gesundheit und Intellekt. Brüderlichkeit ist das Feigenblatt für Egoismus sowie Angst vor Fremden. Für den Schweizer Journalisten Roman Bucheli ist der Mensch ein „Gewohnheitstier“, dem nichts „widerwärtiger (ist) als der stete Wandel und die damit verbundene Unsicherheit“. Der Mensch sei nie „konservativer als in Zeiten der Verunsicherung“. Deshalb hätten wir es uns „zur schlechten Gewohnheit gemacht, angesichts lauernder Gefahren die eigene Fragilität zu kultivieren“.
Das ist wohl der Grund, weshalb die Menschen mit Begeisterung immer mehr Verbote akzeptieren. Und die Parteien mit Vorschlägen für immer mehr „Sicherheit“ wetteifern. Unentwegt werden neue Regelwerke erstellt, um „Gefahren“ zu neutralisieren, Leben und Eigentum zu schützen, die Umwelt und die Gesundheit zu bewahren. So hat die EU-Kommission im Jahr 2022 ganze 2.103 legislative und nicht legislative Akte verabschiedet oder geändert, aber deren bloß 535 außer Kraft gesetzt. Diese reglementarische Logorrhöe wird auf nationaler Ebene überall verstärkt. Was bleibt von der gerühmten „Freiheit“ angesichts der wie Krebsgeschwüre auswuchernden Bürokratie?
Hehre Absichten …
Sicher. Es stecken immer hehre Absichten hinter allen Regelwerken. Etwa die Klima-Gesetzgebung. Die besonders in der EU zu Verbots-Orgien führt. Deren Auswirkungen mehr als ungewiss sind. Zumal der Rest der Welt nicht mitzieht. Wie der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn feststellte, sind die Klimakonferenzen zu „Schadenersatz-Runden verkommen“, wo die meisten Länder bloß mehr Geld von Amerikanern und Europäern fordern. Doch nicht daran denken, den europäischen Anstrengungen zu folgen. Der Anteil der EU am weltweiten Ausstoß von Klima-Gasen ist auf 7,33% im Jahr 2021 gefallen. Derjenige von China, Indien und anderen bedeutenden Industrie-Ländern steigt weiterhin an. 80% der Klima-Gase werden von 18 Ländern ausgestoßen. Darunter ist bloß ein europäischer Staat: die Bundesrepublik mit einem Anteil von zwei Prozentpunkten.
Von hoher Moralität sind ebenfalls andere europäische Zielsetzungen inspiriert. Wer kann sich schon den „Null Opfer im Straßenverkehr“ widersetzen? Resultat: Immer mehr Kontrollen, Sicherheitskameras, Radar-Fallen. Allein Hunderttausende von Strafzetteln im Ländchen, die meisten wegen geringfügiger Überschreitungen der erlaubten Geschwindigkeit. Die immer weiter herabgesetzt wird. Weil der Mensch ein fehlbares Wesen bleibt, gibt es dennoch Unfälle mit Todesfolge.
Den Rauchern soll das Qualmen definitiv vergällt werden. Trotz abschreckender Bilder und idiotischer Warnsprüche auf den Packungen {Etwa: „Rauchen mindert ihre Fruchtbarkeit“ (bis ins hohe Alter?)}, greift weiterhin jeder Fünfte zum Glimmstängel. Der Staat verdient mit. Linke Parteien fordern höhere Steuern auf dem proletarischen Rauchen. Wollen aber gleichzeitig den „Cannabis“-Genuss liberalisieren.
… dubiose Folgen
Die Gesundheit hat höchste Priorität. Alle möglichen Umwelt-Einwirkungen sind zu eliminieren. Etwa Feinstaub oder Stickoxyde. Bei keiner der 72 Messstationen des Landes wurde ein Überschreiten der europäisch vorgeschriebenen Mindestnormen festgestellt. Deshalb will die EU-Kommission nun die Normen verschärfen. Das wird schwierig werden mit der Elektromobilität. Moderne Diesel-Autos sind inzwischen sauberer als Elektromobile. Die bis zu einer Tonne schweren Batterien (über deren chemische Komponenten man besser schweigt) erfordern mächtigere Reifen. Die durch Abreibung und Bremsvorgänge zu mehr Feinstaub führen. Ob es wohl zu einer Umweltabgabe auf den Reifen kommt?
Wer Medikamente einnimmt, tut gut daran, die Begleitnotizen nicht zu lesen. Was gibt es nicht alles an unerwünschten Nebenwirkungen? Nicht nur Schwangere sollten keine Pillen nehmen, wenn sie allergisch gegen irgendeinen Wirkstoff sind. Wie findet man heraus, dass man allergisch ist? Indem man die Pillen schluckt. Merke: Alle Warnungen dienen nur der Pharmaindustrie, die sich mit ellenlangen Notizen gegenüber eventuellen Schadensklagen schützen will.
Warnungen gibt es überall: An Bahnübergängen heißt es weiterhin „Ein Zug kann einen anderen kaschieren“. Die kleinste Plastik-Tüte hat den Aufdruck, es bestehe „Erstickungsgefahr“, falls ein Kleinkind sich diese über den Kopf stülpt. Jeder Haushaltsapparat ist begleitet mit Hinweisen auf alle erdenklichen Gefahrenquellen. Etwa: „Dieses Gerät kann von Personen mit reduzierten physischen, sensorischen oder mentalen Fähigkeiten nur unter Aufsicht benutzt werden.“ Seit ein US-Gericht einen Produzenten verurteilte, weil er nicht davor gewarnt hatte, dass man eine nasse Katze besser nicht in einem Mikrowellenofen trocknen sollte, geht kein Hersteller mehr ein Risiko ein. Gebrauchsanweisungen werden immer umfangreicher und damit unlesbarer.
Gesund sterben?
Leider gibt es keine Gebrauchsanweisungen für die Treppen in den Häusern. Quelle der meisten tödlichen Unfälle. Es sterben mehr Menschen durch Treppenstürze als durch Auto- oder Arbeitsunfälle. Auch die Betten bleiben todgefährlich. Obwohl die Menschheit die Gesundheit über alles schätzt, bleiben alle Menschen sterblich. Die Ambition „gesund zu sterben“ endet meistens in einem Bett.
Die Covid-Pandemie führte zu einer Sicherheits-Klimax. Alle 60 Abgeordnete sprachen sich einstimmig für den Lockdown aus. Was sie nicht daran hinderte, im Laufe der Monate durch Hunderte von parlamentarischen Fragen die Regierung zu kritikastern. Es gab Covid-Leugner, es gab Impfgegner. Es gab viele Tote. Es gibt Langzeitfolgen. Aber die Masken-Müdigkeit siegte über die Angst. Die allermeisten Mitmenschen kehrten zurück zu ihrem alten Lebensstil. Es gibt weiterhin Ansteckungen, gar Covid-Tote. Doch der Mensch hat sich an Covid gewöhnt wie an die Grippe.
Roman Bucheli: „Die Erinnerung vergrößert rückblickend die Erfolge und blendet Rückschläge aus.“ Das Unvorhergesehene wird mit der Zeit verdrängt, weil es dem Wunsch der Menschen nach einem „geordneten, sinnreichen und vor allem vorhersehbaren“ Leben widerspricht.
Ordnung und eine gesicherte Zukunft bleiben zwar Illusionen. Doch die Menschen glauben allzu gerne an Horoskope und Wahrsager. Das erklärt den Erfolg der Religionen und vor allem der Sekten. Sowie die Tendenz aller politischen Parteien, immer wieder erneut eine „bessere“ Zukunft zu versprechen.
In diesem Wahljahr dürfen die Luxemburger sich auf einiges gefasst halten. Die Grünen, immerhin seit zehn Jahren Regierungspartei, ohne dass offensichtlich „Grün wirkte“, wollen nunmehr bei der Gesundheitspolitik ein „homogenes Gesamtkonzept“ durchsetzen, bei der „die Qualität der angebotenen medizinischen Versorgung und nicht das wirtschaftliche Interesse im Vordergrund stehen“. Was heißt das konkret?
Für die DP „steet de Mënsch am Mëttelpunkt“, eine völlig neue Erkenntnis. Die CSV will „D’Leit mathuelen. D’Land nei opstellen“. Wegen „Onsécher Zaïten“. Deshalb „eng global Zukunftsvisoun“, „e bessert Sécherheetsgefill fir d’Leit“. Wie bei der DP muss „De Mënsch am Mëttelpunkt“ stehen. Besser noch: Als gesundheitspolitische Priorität will die CSV „De Patient an de Mëttelpunkt stellen“.
Die angestrebte „Zentralität“ der Menschen kommt selbstverständlich ohne Gebrauchsanweisung und vor allem ohne finanzielle Rezepte aus. In den Parteizentralen setzt man offensichtlich darauf, dass die allgemeine Verunsicherung durch Krieg, Pandemie und Umweltsorgen den natürlichen Konservatismus der Menschen bestärkt. Die für die Partei des Premiers zu wählen haben. Oder für die verflossene Regierungspartei CSV. Oder für die nicht mehr so grünen Grünen.
Extreme sind in unsicheren Zeiten unerwünscht. Wo werden die Sozialisten sich wohl positionieren? Links neben ihnen ist wenig zu holen.
* Der Autor ist ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter.
"Moderne Diesel-Autos sind inzwischen sauberer als Elektromobile."
Lieber Robert, jetzt aber raus mit der Sprache. Sollte ich meinen 11 Jahre alten Diesel doch noch umrüsten lassen.
Bitte dringend um Zahlen!
CO2, NOX, Bilanzen auf etwa 10 Jahre umgerechnet. MbG.
Bravo, Herr Goebbels... ihre Zwischenrufe sind immer sehr lesenswert, zeugen sie doch von einer bodenständigen, pragmatischen Einstellung die bei vielen Politikern verloren gegangen ist. Wobei es im Prinzip sehr einfach ist, man braucht nur das Teil zu aktivieren was sich zwischen den Trommelfellen befinden. Nur ist da bei manchen nicht sehr viel... ausser einem Vakuum.
@Jemp,
jaja. tempus fugit. Die Grünen in der BRD traten einst im Bundestag in Turnschuhen an und hatten Salatköpfe unter dem Arm. " Wenn alle Bäume gefällt,alle...blablabla..usw." Was ist davon geblieben.Joschka Fischer tauschte seine Lumpen gegen Nadelstreifen aus,hat 20 Kilo zugenommen und die Bundeswehrsoldaten weiter geschickt als ihre Väter je gekommen sind.( Afghanistan ) Heute fliegt ihnen die Abschaltung der AKW's um die Ohren und sie wollen weiter Kohle verbrennen weil die Lichter ausgehen. Fazit: Wenn's uns an den Pelz geht ändern wir schnell unsere Meinung
Für die LSAP galt vor 40 Jahren noch die Devise: "Gesetze, die keiner einhält, sollte man abschaffen." Heute ist sie eine Partei geworden, die zusammen mit den Grünen die meisten Verbote anstrebt. Das geht von immer irrsinnigeren Geschwindigkeitsbegrenzungen über ein sinnfreies Verbot von zu gelb frittierten Fritten, bis zum Wunsch nach einer massiven Zuckersteuer. Das kann noch lustig werden! Die Rechtsextremisten vom ADR lachen sich schon ins Fäustchen.
"Doch die Menschen glauben allzu gerne an Horoskope und Wahrsager. Das erklärt den Erfolg der Religionen und vor allem der Sekten. " Richtig. Aber dieser Erfolg hängt auch wiederum vom Intellekt und der Bildung ab. Kritisch hinterfragen und bezweifeln kann nur nützlich sein. Dann bräuchten keine Frauen in muslimischen Ländern um ihre Rechte zu kämpfen,dann gäbe es keine Priester und Gurus die den Menschen den Alltag diktieren usw.Die Zahl der Wunder hat mit der Bildung und der "Privatisierung" der Religion abgenommen. Es ist der Konservativismus der den Fortschritt immer wieder lähmt. In den USA haben Eseleien wie der Kreationismus Einfluss auf Politik und Gesellschaft,der Darwinismus wird als eine zweifelhafte (nur)Theorie hingestellt und der Klimawandel ist ein Fake.(Trump) Der Club of Rome sagte bereits vor 50 Jahren voraus was ansteht. Reagiert wurde nicht,denn....das liegt ja in weiter Ferne und geht uns nichts an. Allein in Luxemburg hatten die Verantwortlichen für den Bau der Tram viel Schelte zu ertragen. "Wir brauchen keine Tram und stehen lieber im Stau hinter Gelenkbussen" " Radarfallen sind Abzocke."( und keine Lebensretter für Raser ) usw. So kommen wir auch nicht weiter. Es gilt also weiterhin: " Jeder für sich und nicht für alle."