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StandpunktEine Erde für alle

Standpunkt / Eine Erde für alle
Ohne eine kollektive Kraftanstrengung werden die Lebenserhaltungssysteme der Erde weiter geschädigt Foto: Julian Stratenschulte/dpa

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1972 fand in Stockholm die erste Weltumweltkonferenz der Vereinten Nationen statt. Im Vorfeld des Gipfels schrieb eine Gruppe von Forschenden für den Club of Rome den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“, der überraschend zum Bestseller wurde.

Die Autorinnen und Autoren warnten, ein ins Unendliche steigender Konsum werde die endlichen natürlichen Ressourcen der Erde irgendwann übersteigen und zu einem ökologischen Defizit und dem Zusammenbruch unserer Gesellschaft führen, wenn die Welt die Umweltkosten der menschlichen Aktivitäten nicht anerkennt. Ohne einen Kurswechsel drohten Probleme bei der Nahrungs- und Energieversorgung, zunehmende Umweltverschmutzung, eine Senkung des Lebensstandards und möglicherweise Mitte des 21. Jahrhunderts ein dramatischer Rückgang der Bevölkerungszahlen.

In den folgenden Jahrzehnten wurden die erschreckenden Schlussfolgerungen des Berichts wahrscheinlich häufiger kritisiert als ernst genommen. Viele wischten sie als Katastrophenszenario beiseite, das durch menschlichen Einfallsreichtum und technischen Fortschritt obsolet werden würde. Allerdings enthielt „Die Grenzen des Wachstums“ mehr als eine Prognose. Die Autorinnen und Autoren beschrieben, basierend auf unterschiedlichen Strategien der Menschheit, mehrere alternative Entwicklungsmöglichkeiten und eine aktuelle Studie von Gaya Herrington hat gezeigt, dass drei der vier im Bericht skizzierten Szenarien die empirischen Daten ziemlich gut abbilden.

Das ist äußerst beunruhigend, weil zwei dieser drei Szenarien für die Mitte des Jahrhunderts einen völligen Zusammenbruch und das dritte immer noch einen gewissen Niedergang vorhersagen. Herrington zufolge ist „die Menschheit auf einem Weg, auf dem sie nicht frei über die Grenzen ihres Wachstums entscheidet, sondern ihr diese Grenzen aufgezwungen werden.“

Ein gutes Leben auf einem stabilen Planeten

Aber noch ist nicht alles verloren: Im vierten Szenario, das erhebliche wirtschaftliche und soziale Veränderungen voraussetzt, ist ein besseres Leben für alle Menschen innerhalb der natürlichen Grenzen der Erde möglich. Das ist die Motivation hinter „Earth for All“, einem neuen Bericht des Ausschusses für Wirtschaftstransformation des Club of Rome (dessen Mitglied ich bin) und eines Teams von Experten für Computermodellierung.

Die Autorinnen und Autoren zeigen, dass ein gutes Leben für alle auf einem (relativ) stabilen Planeten immer noch möglich ist, aber nur, wenn wir unsere Wirtschaftsorganisation grundlegend reformieren. Konkret fordern sie fünf Initiativen zu der Beseitigung von Armut, Bekämpfung der Ungleichheit, Gleichstellung der Frau, dem Umbau der Nahrungsmittelsysteme und einer umfassenden Energiewende durch die „vollständige Elektrifizierung“.

Der Bericht unterfüttert diese Ziele mit konkreten und miteinander verknüpften Strategien in allen fünf Handlungsfeldern. Natürlich erfordert dies alles umfassende Investitionen und eine massive Erhöhung der öffentlichen Ausgaben. Eine höhere Besteuerung, insbesondere extrem reicher Menschen und großer Firmen, ist ein unverzichtbarer Bestandteil dieser Agenda. Um die CO2-Emissionen und einen unnötig verschwenderischen Konsum zu begrenzen, müssen außerdem Vermögen und Konsum der Superreichen reguliert werden.

Die Schaffung globaler Liquidität, beispielsweise durch die Ausgabe von Sonderziehungsrechten, den Reserveguthaben des Internationalen Währungsfonds und dem Abbau des Staatsschuldenüberhangs, würde den Regierungen in Entwicklungsländern einen größeren finanziellen Handlungsspielraum eröffnen.

Inzwischen ist klar, dass die globalen Lebensmittelsysteme nicht mehr funktionieren. Zurzeit fördern sie ein ungesundes und nicht nachhaltiges Produktions- und Konsumverhalten und enorme Abfallmengen und müssen entsprechend reformiert werden. Der wichtigste Schritt hierzu wäre eine Regulierung der Märkte für öffentliche Güter. Aber nicht nur Lebensmittel müssen systematisch und wirksam reguliert werden, sondern auch die Märkte für Güter und Dienstleistungen, Finanzdienstleistungen, Arbeit und Land sowie alle Märkte mit Auswirkungen auf Umwelt und Natur.

Für eine sinnvolle Regulierung brauchen wir eine Demokratisierung des Wissens, allgemeinen Zugang zu neuen Technologien und die Anerkennung und Verbreitung traditionellen Wissens. Mehr Macht für Frauen und Arbeitnehmer würde nicht nur unsere Gesellschaften glücklicher, gesünder und gerechter machen, sondern auch die Bevölkerungszahlen stabilisieren.

Der Bericht „Earth for All“ enthält die Ergebnisse globaler Modellierungen, die sich besonders auf zwei Szenarien konzentrieren. Das erste – „zu wenig, zu spät“ – entspricht unserer aktuellen Entwicklung, bei der Regierungen und internationale Institutionen zwar viel über Nachhaltigkeit und den Klimawandel reden, aber kaum etwas für eine echte Wende tun.

Es wartet die Hölle auf Erden

In diesem Szenario führt der Kampf zwischen Bevölkerungsgruppen und ganzen Ländern um knappe Ressourcen zu wachsender Ungleichheit und Vertrauensverlust innerhalb der Gesellschaft. Ohne eine kollektive Kraftanstrengung, die den immensen Druck auf die Natur begrenzt, werden die Lebenserhaltungssysteme der Erde (Klima, Wasser, Böden und Wälder) weiter geschädigt und einige Regionen werden sich unumkehrbaren Kipp-Punkten nähern oder diese sogar überschreiten. Auf viele Menschen, die bereits in Armut leben, und unzählige Tierarten wartet die Hölle auf Erden.

Im zweiten Szenario – „der große Sprung“ – versucht die Politik, fünf entscheidende Veränderungen umzusetzen und das Leben aller Menschen tatsächlich zu verbessern. Das heißt, sie schützt die Würde (damit jeder Mensch sicher und gesund leben kann), die Natur (eine wiederhergestellte und sichere Umwelt für alle Formen des Lebens) und den Zusammenhalt (ein Gefühl der Verbundenheit und Institutionen, die dem Gemeinwohl dienen). Und sie setzt sich für Fairness (Gerechtigkeit in all ihren Dimensionen, mit einer viel kleineren Lücke zwischen den Reichsten und den Ärmsten) und Teilhabe (aktives Engagement der Bürger in verwurzelten Gemeinschaften und Wirtschaftssystemen) ein.

Das alles zu erreichen, wird natürlich nicht einfach. Eine allgemeine und nachhaltige Erhöhung des Gemeinwohls erfordert aktive Regierungen, die bereit sind, Märkte zu reformieren und eine langfristige gesellschaftliche Vision zu verfolgen. Dafür wiederum braucht es politischen Willen und eine grundlegend neue Einstellung bei den Regierungen – die ohne starken öffentlichen Druck und eine Mobilisierung der Massen eher unwahrscheinlich ist. Weil wir so vielen Kipp-Punkten schon gefährlich nahe sind, hätte die Null-Option furchtbare Folgen: Umweltzerstörung, extreme wirtschaftliche Ungleichheit, Störungsanfälligkeit und potenziell untragbare soziale und politische Spannungen.

Deshalb ist „Earth for All“ mehr als ein Bericht – es ist ein Fanal. Die notwendigen Veränderungen sind gravierend und brauchen deshalb entschlossene soziale Bewegungen mit einer breiten Partizipation. Die Geschichte zeigt, dass Untätigkeit und Defätismus oft in den Untergang führen. Sie lehrt uns aber auch, dass Regierungen entweder dem Druck der Bevölkerung nachgeben müssen oder ersetzt werden.

*Jayati Ghosh ist Professor der Wirtschaftswissenschaften an der University of Massachusetts Amherst und Mitglied des hochrangigen Beratungsgremiums für erfolgreichen Multilateralismus des UN-Generalsekretärs.

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