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BerlinaleEin Festival auf der Suche nach Handlung

Berlinale / Ein Festival auf der Suche nach Handlung
Eröffnungszeremonie, Berlinale-Palast, Vorderansicht Foto: Editpress/Tom Haas

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Prunk und Pomp sind die Säulen der Filmwelt. Die Traumfabrik Hollywood hat inzwischen ihre Filialen in aller Welt eröffnet und selbst ein Festival wie die Berlinale, das sich seines unabhängigen, hochkarätigen Programmes rühmt, ist nicht vor dem Zwang zur Banalität gefeit. Davon zeugte die Eröffnungszeremonie am Donnerstagabend: Ein roter Teppich aus Plastik, ein Musikloop aus der Konserve und sehr viel Werbung. Es war in vielerlei Hinsicht eine Analogie zum heutigen Kino.

Berlin, Potsdamer Platz, 20. Februar 2020. Der Wind reißt an unseren Jacken, während wir vom Grand Hyatt Hotel in Richtung Theater laufen. Durch den Regen auf unseren Brillengläsern flimmern die roten Laternen und Autoscheinwerfer fast surrealistisch. Frenetischer Jubel bereits aus der Ferne – verdammt. Sind wir zu spät? Wir beschleunigen unsere Schritte.

Je näher wir kommen, desto heller wird die Szenerie. Rot ist die dominante Farbe – die Absperrungen, die Straße, der Schmuck an den Laternen. Und natürlich der große Bär, das Symbol des Festivals, hoch wie fünf Männer als Projektion auf dem Eingang des Theaters am Potsdamer Platz. Gegenüber die Audi-Lounge in einem uninspirierten Gebäude aus Stahl und Glas. Blaue und weiße LEDs. Glamour. Die Sponsoren inszenieren sich mindestens so professionell wie die Schauspieler.

In der Audi-Lounge stehen Menschen mit Cocktails an den Tischen und starren auf die Menschen, die unter ihnen versuchen, die Aufmerksamkeit der Schauspieler auf sich zu ziehen. Hierzu könnte man fast ein neomarxistisches Gemälde über die Klassengesellschaft zeichnen. Soziale Differenzen sind so deutlich erkennbar wie die Farbschichten eines gut gemixten B-52s.

Tom: „Wieso sind wir eigentlich hier und nicht da oben? Mittendrin statt nur dabei?“

Jeff: „Die Zeit, in der Journalisten in Lounges durften, sind vorbei. Es sei denn, man heißt Frédéric Beigbeder. Der hat es geschafft, das goldene Zeitalter des Journalismus ins 21. Jahrhundert zu retten – aber halt nur für sich selbst.“

Tom: „Nächstes Mal gehe ich mit dem auf die Berlinale.“

Sicherheitsangestellte mit roten Schals – das modische Pendant zur Uniform – teilen die Menschenmasse auf: Die Journalisten dürfen sofort rein, die „Fans“ müssen Schlange stehen. Ein angetrunkener Schotte erklärt einem der Angestellten, er hätte seinen Journalisten-Badge im Hotel vergessen – rein darf er trotzdem nicht. Wir drängen uns an ihm vorbei – auf die Nachfrage, was wir verpasst haben, erklärt uns eine Kollegin von der Deutschen Welle, dass wir Jeremy Irons, den Präsidenten der Jury, verpasst hätten.

Tom: „Wer ist nochmal Jeremy Irons?“

Jeff: „Der diesjährige Jury-Präsident. Bekannt wurde Irons hauptsächlich für seine Auftritte in David Lynchs ,Inland Empire‘ oder Kubricks Nabokov-Verfilmung ,Lolita‘.“

Tom: „Ah, der Butler von Batman aus ,Justice League‘!“

Jeff: „Das leider auch. Und während der Jury-Pressekonferenz kommentierte Jeremy Irons ältere Interviews, in denen er zum Teil sexistische und homophobe Kommentare von sich gab – und die dem Festival bereits erste Kritiken für die Jurywahl einbrachten. Irons präzisierte, dass er die Me-Too-Bewegung unterstütze und hoffe, dass die Filme, die während der Berlinale gezeigt werden, genau diese sozialen Fragen thematisieren werden.“

Tom: „Schön, dass er das jetzt einsieht – aber er hatte vermutlich auch keine andere Wahl, als genau diese Aussage zu machen. Es ist nur fraglich, ob er vor dem Hintergrund der Richtige ist, um diese ,sozialen Fragen‘ zu beurteilen, selbst wenn sie ihm ins Gesicht springen.“

Ein zweiter Sicherheitsbeauftragter erklärt, dass uns der Eintritt zum Palast verweigert bleibt – uns fehlt der grüne Einlasszettel. Erinnerungen an Cannes oder an Asterix’ Passierschein A38 kommen hoch. Wir dürfen uns aber an den Rand des roten Teppichs stellen, wo geschminkte Fernsehreporterinnen vor den Kameras paradieren – in Instagram-Zeiten verschwimmen die Grenzen zwischen Prominenz auf dem Teppich und den Berichterstattern.

Der Journalistenkäfig neben dem Eingang zum Palast
Der Journalistenkäfig neben dem Eingang zum Palast Foto: Editpress/Tom Haas

Tom: „Ich glaube, du verdeckst das Sichtfeld des Kameramanns neben dir.“

Sigourney Weaver und Margaret Qualley steigen aus heranfahrenden Audis, die Menge kreischt, ruft die Namen der beiden Schauspielerinnen, als würden sie sich in einer Dauerschleife befinden, die beiden Darstellerinnen signieren einige Fanporträts, laufen auf dem roten Teppich etwas orientierungslos auf und ab, als würden sie den Eingang zum Berlinale-Palast nicht finden.

Schlimmer noch geht es den Nebendarstellern. Niemand ruft ihre Namen, sie stehen da wie bestellt und nicht abgeholt. Auch die Journalisten interessieren sich nicht für sie – nur der Regen macht alle Menschen gleich.

Jeff: „Das wirkt fast wie eine zeitgenössische Inszenierung von Becketts ,Warten auf Godot‘. Tausende von Menschen stehen da und warten gespannt auf ein Event, das eigentlich nie eintreten wird. Dauerwerbespots sind spannender, es ist wie ein Avant-Garde-Film ohne Handlung.“

Tom: „Irgendwie passt es dann auch, dass die anwesenden Schauspieler im Eröffnungsfilm ,My Salinger Year‘ mitwirkten – denn der war eigentlich auch nur eine Kulisse, ein roter Teppich –, die Kameraeinstellungen waren meistens nur ein Vorwand, um die Hauptdarstellerin Margaret Qualley in Bildaufnahmen, die wie Modewerbungen der 90er-Jahre wirkten, festzuhalten.“

Wir stehen noch eine Weile hinter den Absperrungen rum und rauben richtigen Fotografen die Sicht. Unsere Smartphones, mit denen wir Fotos schießen, rufen Befremden hervor. Nachdem Sigourney Weaver und ihre Anhängsel im Berlinale-Palast verschwunden sind, überlegen wir uns noch eine List, um uns dennoch Zutritt zu verschaffen – vergebens. Immer noch im Regen ziehen wir ab, hinaus in die Berliner Nacht. Unterwegs begegnet uns nochmal der betrunkene Schotte. Er hat Gerald Butler getroffen. Wir kommen nicht umhin, ihn um seinen Abend zu beneiden. Ein Zusammentreffen mit Gerald Butler verspricht definitiv mehr Spannung als die Eröffnungszeremonie von Deutschlands wichtigstem Filmfestival.