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StandpunktDie schweigende progressive Mehrheit

Standpunkt / Die schweigende progressive Mehrheit
 Foto: Patrick Semansky/AP/dpa

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Die Welt ließ einen Stoßseufzer der Erleichterung vernehmen, als die befürchtete „rote Welle“ republikanischer Siege bei den US-Midterms ausblieb. Während die Republikaner eine knappe Mehrheit im Repräsentantenhaus errangen, konnten die Demokraten ihre Mehrheit im Senat behaupten. Die amerikanischen Wähler schienen den Extremismus und die Scheinheiligkeit der Republikaner abzulehnen und versagten vielen der von Donald Trump unterstützten Kandidaten, die Lügen über die Wahl 2020 von sich gaben und grundlegende demokratische Prinzipien infrage stellten, den Sieg.

Natürlich besteht angesichts der Komplexität der Faktoren, die das Abstimmungsverhalten der einzelnen Wähler beeinflussen, immer die Gefahr, ein Wahlergebnis falsch auszulegen. Doch aus meiner Sicht dürfte der vernünftige amerikanische Durchschnittswähler die historischen Erfolge der Demokraten während der vergangenen beiden Jahre erkannt haben. Dank US-Präsident Joe Bidens Gesetz zum wirtschaftlichen Wiederaufbau (American Rescue Plan) erlebten die USA die größte Konjunkturerholung unter den weltweiten hochentwickelten Volkswirtschaften. Die Kinderarmut hat sich dadurch im Laufe eines Jahres nahezu halbiert.

Zugleich stand Biden der Verabschiedung des ersten bedeutenden Infrastrukturgesetzes in Jahrzehnten vor, sowie Amerikas erster bedeutender gesetzgeberischer Reaktion auf den Klimawandel (Inflation Reduction Act) und einem wichtigen industriepolitischen Gesetz (CHIPS & Science Act), das die zentrale Rolle des Staates bei der wirtschaftlichen Gestaltung ausdrücklich anerkennt. Und diese bahnbrechenden Gesetze wurden sämtlich verabschiedet, trotz eines Kongresses, der eine Widerspenstigkeit von historischem Maßstab an den Tag legte.

Zudem waren Bidens Erfolge nicht auf die Gesetzgebung begrenzt. Er ernannte die erste schwarze Frau als Richterin des US Supreme Court und erließ Exekutivverordnungen, um die Schuldenlage der Studenten zu mildern, die Durchsetzung der Kartellbestimmungen zu verbessern und die Finanzregulierung für die Ära des Klimawandels zu aktualisieren. Er führte die USA zurück ins Pariser Klimaabkommen und erzielte bemerkenswerte Erfolge bei der Wiederherstellung von Amerikas Führungsrolle auf der Weltbühne. Obwohl man es ihm kaum zugutehält, dürfte die Geschichte zeigen, dass seine Steuerung des Russland-Ukraine-Problems meisterhaft war.

Nun, da die amerikanischen Wähler dem republikanischen Extremismus eine Absage erteilt haben, werden manche argumentieren, dass Biden stärker nach rechts steuern sollte, um die schwer fassbare „Mitte“ für sich zu gewinnen. Doch offenbart das eine falsche Lesart des Midterm-Ergebnisses 2022, weil die Wähler nicht nach einer Art salomonischer Teilung des Babys streben.

Man betrachte die Frage der Abtreibung. Es ist nicht so, als wäre Amerikas „Mitte“ hervorgetreten und hätte gesagt: „Macht einen Schnitt bei viereinhalb Monaten, mit Ausnahmen für Inzest, aber nicht für andere Vergewaltigungsfälle.“ Unabhängig von ihren Ansichten über die Abtreibung – niemand ist davon begeistert –, haben die Amerikaner konsequent breite Zustimmung dazu signalisiert, dass man die Entscheidung darüber der betroffenen Frau und nicht dem Staat überlassen sollte.

Der Zentrismus ist auch in Bezug auf die meisten anderen großen Themen, mit denen sich die Wähler konfrontiert sehen, der falsche Ansatz. Es ist kein Linksextremismus, anzumerken, dass die amerikanische Wirtschaft nicht der Mehrheit der Amerikaner dient. Und das Gefühl der Ungerechtigkeit wird verstärkt durch die Tatsache, dass es uns so viel besser gehen sollte, als es das tut. Die USA sind ein außerordentlich reiches Land und viel reicher als viele andere Länder, die ihren Bürgern bessere Lebensbedingungen bieten. Amerikas Versäumnisse sind gewollt. Oder präziser: Sie sind das Ergebnis der Entscheidungen eines politischen Systems, das nicht die Interessen der Mehrheit seiner Bürger widerspiegelt, weil es von Partikularinteressen vereinnahmt wurde.

Daher wurde der Mindestlohn des Bundes, obwohl er laut Ansicht der überwältigenden Mehrheit der Amerikaner mindestens verdoppelt werden sollte, seit 2009 nicht mehr angehoben. In ähnlicher Weise sind die meisten Amerikaner – auch wenn sie sich uneins sind über den besten Weg, dies zu erreichen – der Ansicht, dass jeder als grundlegendes Menschenrecht Zugang zur Krankenversorgung haben sollte. Es herrscht zudem breite Übereinstimmung darüber, dass jeder, der von einer Hochschulbildung profitieren könnte, diese auch unabhängig vom Einkommen seiner Eltern verfolgen sollte, ohne sich mit einem hohen fünfstelligen Betrag verschulden zu müssen. Und alle Amerikaner wünschen sich eine sichere Altersversorgung und Zugang zu anständigem, bezahlbarem Wohnraum.

Es ist kein Linksextremismus, politische Lösungen für diese Probleme einzufordern oder unsere Umwelt zu schützen, unsere wirtschaftliche Absicherung zu verbessern, den Wettbewerb zu stärken und sicherzustellen, dass in unserem politischen System jeder Mensch Gehör findet. Während die Rechte versucht, diese progressive Agenda als radikale Überhebung darzustellen, kauft ihnen eine Mehrheit der Wähler das nicht ab. Wenn überhaupt, hat sich die progressive Agenda inzwischen zur zentristischen Agenda gewandelt.

Ein grundlegendes Prinzip, auf das sich die progressive Agenda stützt, ist, dass man die meisten großen Probleme – insbesondere im 21. Jahrhundert – am besten gemeinschaftlich in Angriff nimmt statt allein. Ein weiterer Grundsatz ist, dass erfolgreiches kollektives Handeln demokratisch und auf inklusive Weise erreicht werden muss.

Die isoliert lebenden Farmer der Vergangenheit mögen einen robusten Individualismus verfolgt haben, doch selbst sie waren zum Schutz vor Diebstahl und Gewalt auf kollektives Handeln angewiesen, und auf staatliche Regulierung, um das ordnungsgemäße Funktionieren der Märkte sicherzustellen, auf denen sie Handel trieben. Heute sehen wir uns mit Naturkatastrophen, Pandemien und dem Klimawandel konfrontiert – alles Bedrohungen, die den Einzelnen und selbst einzelne Länder überfordern.

Die heutigen Technoliberalisten ignorieren all dies, weil sie nicht erkennen – oder nicht akzeptieren wollen –, dass die Freiheit des einen häufig die Unfreiheit des anderen darstellt. Das Recht des einen, keine Maske zu tragen oder sich nicht impfen zu lassen, beeinträchtigt das Recht des anderen auf Sicherheit vor einem ansteckenden Virus. Das Recht des einen auf Besitz eines halbautomatischen Sturmgewehrs verletzt allzu oft das Recht vieler anderer auf Leben. Wenn man gefordert ist, diese Rechte gegeneinander abzuwägen, werden sich die meisten vernünftigen Menschen klar für die eine Seite entscheiden.

Eine innovative, gut konzipierte Ordnungspolitik kann unser aller Handlungsspielraum erweitern und die Reichweite der Freiheit radikal ausweiten. Dabei ist eine subtile Ironie im Spiel: Indem man die Menschen zwingt, Steuern zu zahlen, kann man die Möglichkeiten, die ihnen offen stehen, ausweiten. Jeder kann profitieren und tut es überwiegend auch. Natürlich wäre es jedem lieber, dass andere die Steuerlast tragen – Ökonomen sprechen vom Trittbrettfahrerproblem –, doch selbst in unserer gespaltenen Gesellschaft gibt es, glaube ich, breite Übereinstimmung darüber, dass diejenigen, die, weil sie mehr haben, besser imstande sind, Steuern zu zahlen, einen größeren Anteil der Last tragen sollten.

Zuallermindest zeigen die Wahlen von 2022, dass ein großer Teil der Wähler die Trump’sche Politik hinter sich lassen möchte. Sie spüren die vor uns liegenden Herausforderungen, und dass sie sich gemeinsam im Rahmen einer höflichen, faktengestützten Debatte besser bewältigen lassen. Die Amerikaner haben die Beschimpfungen und die Angstmacherei satt. Ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, die meisten Amerikaner unterstützen eine progressive Agenda und ihr Versprechen höherer Lebensstandards für alle.


*Joseph E. Stiglitz ist Wirtschaftsnobelpreisträger und Professor an der Columbia University sowie Mitglied der Unabhängigen Kommission für die Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung (ICRICT).

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2022. www.project-syndicate.org

Phil
11. Dezember 2022 - 18.37

Kann mir einer den Unterschied zwischen "Make America Great Again" und "Building a Better America".
Ist doch inhaltlich Jacke wie Hose... außer dass das letztere eine Kopie in Blau ist.... signiert Joe Biden.

JJ
8. Dezember 2022 - 17.55

Solange Trump auf der Bühne steht und den Mund aufmacht ist Biden nicht in Gefahr. Trump redet seine Partei um Kopf und Kragen. Er war und ist das Sprachrohr des " white Trash ". Jene wandelnden Bildungslücken die für Mauerbau und "America first" stehen.