Headlines

StandpunktDie Inflation wird Aktien und Anleihen in Mitleidenschaft ziehen

Standpunkt / Die Inflation wird Aktien und Anleihen in Mitleidenschaft ziehen
 Foto: AFP/Spencer Platt/Getty Images

Jetzt weiterlesen! !

Für 0.99 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Die steigende Inflation in den USA und weltweit zwingt die Anleger, die voraussichtlichen Auswirkungen sowohl auf „riskante“ Anlagen (im Allgemeinen Aktien) als auch auf „sichere“ Anlagen (wie etwa US-Schatzanleihen) abzuschätzen. Der traditionelle Rat an die Anleger lautet, ihr Vermögen gemäß der 60/40-Regel anzulegen: 60% des Portfolios sollten in renditestärkeren, aber schwankungsanfälligeren Aktien angelegt sein und 40% in renditeschwächeren, aber weniger schwankungsanfälligen Anleihen. Der Grund dafür ist, dass Aktien- und Anleihekurse normalerweise negativ korreliert sind (wenn die einen steigen, fallen die anderen); daher gleicht eine derartige Mischung Risiken und Chancen eines Portfolios aus.

In Phasen der Risikofreudigkeit, wenn die Anleger optimistisch sind, steigen Aktienkurse und Anleiherenditen, während die Anleihekurse sinken, was zu einem Marktverlust bei den Anleihen führt. In Phasen der Risikoscheu, wenn die Anleger pessimistisch sind, folgen Kurse und Renditen dem umgekehrten Muster. In ähnlicher Weise gilt: Wenn die Wirtschaft boomt, steigen Aktienkurse und Anleiherenditen tendenziell, während die Anleihekurse fallen, und in einer Rezession ist es umgekehrt.

Doch setzt die negative Korrelation zwischen Aktien- und Anleihekursen eine niedrige Inflation voraus. Bei einem Anstieg der Inflation werden die Anleiherenditen negativ, weil durch höhere Inflationserwartungen ausgelöste steigende Renditen ihren Marktpreis sinken lassen. Man beachte: Jeder Anstieg der Renditen langfristiger Anleihen um 100 Basispunkte führt zu einem 10%igen Rückgang beim Marktpreis – ein steiler Verlust. Bedingt durch die höhere Inflation und höhere Inflationserwartungen sind die Anleiherenditen gestiegen, und der Gesamtertrag langfristiger Anleihen lag 2021 bei -5%.

Langer Bullenmarkt

Während der letzten drei Jahrzehnte wiesen Anleihen nur ein paar Mal einen negativen jährlichen Gesamtertrag auf. Der Rückgang der Inflationsraten von einem zweistelligen auf ein sehr niedriges einstelliges Niveau führte bei den Anleihen zu einem langen Bullenmarkt; die Renditen fielen und die Anleiheerträge waren aufgrund des Kursanstiegs stark positiv. Die vergangenen 30 Jahre standen daher in steilem Gegensatz zu den stagflationären 1970er Jahren, als die Anleiherenditen im Einklang mit der höheren Inflation in die Höhe schossen, was zu massiven Marktverlusten bei Anleihen führte.

Doch schadet die Inflation auch den Aktien, weil sie zu höheren Nominal- und Realzinsen führt. Mit steigender Inflation ändert sich daher die Korrelation zwischen Aktien- und Anleihekursen von negativ zu positiv. Höhere Inflation führt zu Verlusten bei Aktien und Anleihen so wie in den 1970er Jahren. Das KGV im S&P 500 lag 1982 bei 8; heute liegt es bei über 30.

Beispiele der jüngeren Zeit zeigen zudem, dass die Aktien leiden, wenn die Anleiherenditen in Reaktion auf einen Anstieg der Inflation oder die Erwartung, dass eine höhere Inflation zu einer Straffung der Geldpolitik führen wird, steigen. Selbst die meisten hochgejubelten Technologie- und Wachstumsaktien sind gegen einen Anstieg der langfristigen Zinsen nicht immun, weil es sich dabei um „langfristige“ Anlagewerte handelt, deren Dividenden weit in der Zukunft liegen.

Massive Verluste 

Dies lässt sie sensibler auf einen höheren Abzinsungsfaktor (die Renditen langfristiger Anleihen) reagieren. Im September 2021, als die Renditen zehnjähriger US-Schatzanleihen um bloße 22 Basispunkte stiegen, fielen die Aktienkurse um 5-7% (und im technologielastigen Nasdaq war der Rückgang noch größer als im S&P 500).

Dieses Muster hat sich in 2022 fortgesetzt. Ein moderater Anstieg der Anleiherenditen um 30 Basispunkte hat im Nasdaq eine Korrektur (definiert als Rückgang der Gesamtmarktkapitalisierung um mindestens 10%) und im S&P 500 eine Beinahe-Korrektur ausgelöst. Sollte die Inflation deutlich über dem Zielwert der US Federal Reserve von 2% verharren – und sogar, wenn sie gegenüber ihrem aktuellen Niveau etwas sinkt –, würden die Renditen langfristiger Anleihen deutlich steigen, und die Aktienkurse könnten im Bärenterritorium (einem Rückgang um 20% oder mehr) landen.

Wenn die Inflation weiterhin höher bleiben sollte als während der letzten Jahrzehnte (die „Große Mäßigung“), würden ein 60/40-Portfolio massive Verluste erleiden. Die Aufgabe für die Anleger besteht daher darin, sich eine andere Möglichkeit einfallen zu lassen, um die 40% ihres Portfolios abzusichern, die in Anleihen angelegt sind.

Anlagen in Gold und Edelmetallen

Es gibt mindestens drei Möglichkeiten, die Festzinskomponente eines 60/40-Portfolios abzusichern. Die erste besteht in Anlagen in inflationsindizierte Anleihen oder Staatsanleihen mit kurzen Laufzeiten, deren Erträge sich in Reaktion auf die höhere Inflation rasch anpassen. Die zweite Option besteht aus Anlagen in Gold und andere Edelmetalle, deren Preise bei einem Anstieg der Inflation tendenziell steigen (Gold ist zudem eine gute Absicherung gegen die Arten von politischen und geopolitischen Risiken, die die Welt in den nächsten Jahren heimsuchen könnten). Und schließlich kann man in Realvermögen investieren, bei dem das Angebot relativ begrenzt ist, wie etwa Land, Immobilien und Infrastruktur.

Die optimale Kombination aus kurzfristigen Anleihen, Gold und Immobilien wird im Laufe der Zeit je nach gesamtwirtschaftlicher, politischer und Marktlage auf komplexe Weise variieren. Einige Analysten argumentieren zudem, dass Öl und Energie – zusammen mit anderen Rohstoffen – eine gute Absicherung gegen die Inflation darstellen können. Doch ist dies ein komplexes Thema. In den 1970er Jahren wurde die Inflation durch den Anstieg der Ölpreise verursacht und nicht umgekehrt. Und angesichts des aktuellen Drucks, sich vom Öl und von fossilen Brennstoffen weg zu bewegen, könnte die Nachfrage in diesen Sektoren in Kürze einen Scheitelpunkt erreichen.

Während man über die richtige Portfolio-Zusammensetzung debattieren kann, ist eines klar: Staatsfonds, Pensionskassen, Stiftungen, Family Offices und Einzelanleger, die der 60/40-Regel folgen, sollten anfangen, über eine Diversifizierung ihrer Bestände nachzudenken, um sich gegen einen Anstieg der Inflation abzusichern.

* Nouriel Roubini ist Professor emeritus an der Stern School of Business der New York University. Er ist Chefökonom von Atlas Capital Team, einem auf die Absicherung gegen Inflation und andere Tail Risks spezialisierten Vermögensverwaltungs- und Fintech-Unternehmen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2022. www.project-syndicate.org