Tageblatt: Andy Schleck, wie haben Sie die beiden entscheidenden Etappen, das Zeitfahren und die Königsetappe am Mittwoch, erlebt?
Andy Schleck: Nach dem Zeitfahren waren alle schockiert, ich persönlich war es nicht. Pogacar hat ein gutes Zeitfahren hingelegt. Aber die Art und Weise, wie Vingegaard diese Tour und besonders diesen Tag vorbereitet hat … es war nicht nur ein Objekt. Es war dieser Tag. Er hätte den Parcours blind fahren können. Jeder Gangwechsel war geplant. Für mich war es ein „Masterpiece“.
Der Abstand war aber überraschend groß, oder?
1:38 Minuten ist schon erstaunlich, aber man muss die Sache analysieren. Es sind zwei großartige Radsportler, die in etwa die gleichen Qualitäten haben. Tadej (Pogacar) fährt mehr Rennen. Für Vingegaard hingegen zählt nur die Tour. Pogacar hat Spaß bei Mailand-Sanremo, er gewinnt die Flandern-Rundfahrt, er hat keine Verpflichtungen. Er kommt zur Tour, um sie zu gewinnen, weil er ein enormes Talent hat. Ich denke auch heute, dass Tadej der bessere Fahrer von den beiden ist, aber er wird diese Tour nicht gewinnen. Ich hoffe sogar, dass er sie beenden wird.
Warum?
Tadej hat einen Schlag auf die Moral bekommen. Ich habe ihn nach der 17. Etappe am Bus gesehen. Und ehrlich: ich dachte, er wird heute (Donnerstag) nicht an den Start gehen, was sehr schade für sein Image gewesen wäre. Ein zweiter Platz ist ein zweiter Platz, da kann ich Geschichten von erzählen. Für einen zweiten Platz kämpft man.
Tadej Pogacar war wie eine Flamme, die immer langsamer ausgeht
Was muss Pogacar in Zukunft ändern, um die Tour erneut zu gewinnen?
Er muss aufhören, so viele Rennen vorher zu fahren. Vor zehn Jahren haben wir gesagt, dass wir Rennkilometer brauchen. Heute ist es anders. Ich denke auch, dass es Unterschiede zwischen den Mannschaften UAE und Jumbo-Visma gibt. UAE ist nicht perfekt organisiert. Sie sind gut, sie haben zwei Fahrer auf dem Podium. Es liegt aber eine Welt zwischen beiden Teams, finde ich.
Hat es Ihnen wehgetan, Pogacar im Col de la Loze so leiden zu sehen?
Es tut immer weh, einen solch großen Radsportler die Tour verlieren zu sehen. Aber ich glaube, dass er die Tour schon im Zeitfahren verloren hatte. Es war aber nicht wirklich eine Überraschung. Ich dachte, er bleibt bis zwei, drei Kilometer vor dem Ziel bei ihm. Aber man hat gesehen, er war wie eine Flamme, die immer langsamer ausgeht.
Warum gewinnt Vingegaard in diesem Jahr die Tour?
Er ist der bessere Kletterer. In zwei Jahren ist er ein kompletter Fahrer geworden. Ich erinnere mich, als er 2021 Zweiter hinter Pogacar wurde. Da sagte man, dass zwischen den beiden Welten liegen. Das Jahr danach gewinnt er die Tour. Er hat enorme Fortschritte gemacht. Er kann nicht viel besser werden. Es wird nächstes Jahr für ihn sehr schwer, dieses Niveau erneut zu erreichen.
Ist der Unterschied zwischen Vingegaard und Pogacar auch die Einstellung? Man sah Bilder, wie Pogacar am Ruhetag vor dem Zeitfahren einen Rückwärtssalto in den Pool schlug.
Er ist nicht während acht Stunden auf Wasserrutschen gerutscht. Jeder verhält sich anders an Ruhetagen. Jumbo ist eine Armee. Sie kommen für ein Ziel und machen links und rechts nichts anderes. Pogacar ist vielleicht ein Charakter, mit dem schwieriger umzugehen ist. Wenn man ihm sagt, nein, du gehst nicht ins Schwimmbad, dann sagt er vielleicht, doch, ich gehe.
Also ein wenig wie Andy Schleck?
Ja, vielleicht. (lacht) Aber immer noch: Tadej bleibt für mich einer der besten Fahrer, wenn nicht der beste Fahrer dieser Zeit.
Kann das Duell Vingegaard-Pogacar andauern?
Ich finde es schade, dass Fahrer wie Geraint Thomas oder Primoz Roglic nicht zur Tour kommen. Sie wissen, wenn sie kommen, dann geht es für sie nur um Platz 3. Ich hoffe nicht, dass sich das alles reproduziert. Nächstes Jahr kommt Remco (Evenepoel) zur Tour, dann gibt es noch ein paar junge Talente wie beispielsweise Juan Ayuso oder Carlos Rodriguez.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir eine Etappe wie die von Mittwoch nötig haben
Wie kommt es, dass in diesem Jahr solche Leistungen zustande kommen?
Ich denke nicht, dass es am Material liegt. In den Jahren von Sky sprach man von „Marginal Gains“ (minimale Vorteile in allen Bereichen, die in der Gesamtheit den entscheidenden Unterschied ausmachen können Anm. d. Red.). Der größte Unterschied in den letzten fünf Jahren ist aber die Ernährung. Sie trinken auf den Zentiliter genau das, was sie trinken müssen. Sie essen aufs Gramm genau das, was sie essen müssen. Und das nicht nur während der Rennen, sondern das ganze Jahr über. Das ist der Grund, warum wir in diesem Jahr solche Leistungen sehen. Früher haben sie EPO genommen und abends dennoch Pommes und Steak gegessen.
Das Material macht keinen großen Unterschied?
Die Räder haben früher 6,8 Kilo gewogen, das tun sie heute auch noch. Das Material ist besser, aber es macht keinen großen Unterschied. Alles, was sie essen und trinken, ist kalkuliert und wird kontrolliert – das ist es.
Was halten Sie von den Dopinggerüchten?
Ich bin mir zu 99 Prozent sicher, dass wir sauberen Sport sehen. Da glaube ich wirklich dran. Wenn man sich die Gesichter anschaut, sie sind wirklich müde. Nach dem Col de la Loze war ich an den Bussen. Als Jasper Philipsen ankam, wollte ich ihm fast helfen, ihn direkt ins Bett zu bringen. Die Tour ist die härteste, die ich miterlebe. Ich bin mir nicht sicher, ob wir eine Etappe wie die von Mittwoch nötig haben. Nach zwei Wochen und einer solchen Hitze … aber gut, auf der anderen Seite machen die Fahrer das Rennen. Sie kennen das Profil der Strecken. Wenn sie den ersten Berg mit 500 Watt im Durchschnitt treten, dann wissen sie, dass der Tag hart wird.
Wie blicken Sie auf die Leistungen der Luxemburger?
Kevin (Geniets) leistet sehr gute Arbeit, er macht sich Freude. Ich war im Col de Joux Plane direkt hinter ihm und er beschwerte sich in der Abfahrt, dass die Teamkollegen ihm nicht folgen könnten. Er lachte. Leider ist er ein bisschen spät in Form gekommen. Alex (Kirsch) macht seine Arbeit, sie haben eine Etappe gewonnen. Bob (Jungels) hat nicht das Niveau, das er gerne hätte. Ich frage mich, warum er sich für einen 25. Platz schlägt wie am Mittwoch. Ich habe ihn noch nicht in einer Ausreißergruppe gesehen. Er ist immerhin hier, um eine Etappe zu gewinnen. Aber es reicht nicht. In der Summe werden wohl alle drei in Paris ankommen. Also finde ich: „Mission accomplie“.
Persönlich standen Sie im Fokus, weil ein Journalist behauptete, Sie hätten Jonas Vingegaard in einem Interview mit L’Equipe als arrogant bezeichnet.
Für mich ist Jonas Vingegaard einer der nettesten Fahrer. Ein Journalist hat das verdreht. Er hat einfach gesagt, dass Andy Schleck erzählt hätte, Vingegaard sei arrogant. Das hat gar nichts mit dem, was ich gesagt habe, zu tun. Ich habe aber mit Jonas gesprochen, alles ist okay.
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