Theater„Amer Amer“ – Wenn ein Zuschauer mit auf der Bühne steht

Theater / „Amer Amer“ – Wenn ein Zuschauer mit auf der Bühne steht
Mit der Theaterperformance „Amer Amer“ setzen die Regisseure Elsa Rauchs und Jérôme Michez eine außergewöhnliche Inszenierungsidee um Foto: Sabino Parente

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Mit dem Spektakel „Amer Amer“ wird in Esch das Theaterjahr 2022 eingeläutet. Der Clou bei der Performance: Eine der beiden Rollen übernimmt ein Freiwilliger aus dem Publikum – und zwar ganz ohne Vorbereitung. Warum sich die Regisseure für dieses Konzept entschieden haben und was sie so an der Mutter-Sohn-Beziehung fasziniert, erklären sie im Interview.

Mutter und Sohn sitzen nach einem Familienabend gemeinsam im Auto. Wie lassen sich beide aufeinander ein? Wie reagieren sie auf das, was das jeweilige Gegenüber tut oder sagt? Mit wie viel Nähe und wie viel Distanz begegnen sie sich am Ende? Vor der Aufführung von „Amer Amer“ eine Antwort auf diese Fragen zu finden, ist unmöglich. Denn die Mutter der Figur Tom ist keine Schauspielerin, sondern eine Person aus dem Publikum, die freiwillig die Bühne erklimmt, um den Part zu übernehmen. Die Regisseure und Schöpfer der Performance, Elsa Rauchs und Jérôme Michez, geben den zwei Spielenden anfangs ein paar Hinweise mit an die Hand. Danach heißt es: The stage is yours.

„Amer Amer“ – eine Theaterperformance

Konzept und Regie: Elsa Rauchs, Jérôme Michez
Bühnenbild: Lisa Kohl
Sound-Design: Quentin Voisey
Licht: Susana Bauer
Darsteller: Tom Geels und eine Person aus dem Publikum
Produktion: Escher Theater

Laut Michez heiße der Sohn Tom (Tom Geels) auch im wahren Leben so, weil der Schauspieler mitnichten völlig hinter der Maske seiner Theaterrolle verschwinde: Als ganzer Mensch müsse er sich dem Ungewissen, die jede Vorstellung für die Beteiligten bedeute, stellen. Ganz improvisiert ist die Performance jedoch nicht: Einen konkreten Text als Grundlage habe der Darsteller schon, doch wie er sich zu ihm verhalte und ob er ihm bis zuletzt folge, bleibe ihm überlassen, erklärt Rauchs. Der Text sei an und für sich nicht wichtiger als die Szenografie, das Licht und die Körper, die auf der Bühne miteinander interagierten. Überhaupt sei das Wichtigste das, was zwischen Mutter und Sohn während der Performance passiere. Da komme die Poesie von „Amer Amer“ mit ins Spiel. Über das gewagte Unterfangen hat sich das Tageblatt mit dem Regisseur-Team, das das Projekt zugleich entworfen hat, unterhalten.

Tageblatt: Eine Zuschauerin oder einen Zuschauer spontan eine Rolle spielen zu lassen, geht man damit nicht ein großes Risiko ein?

Elsa Rauchs: Ja, das stimmt, einerseits ist es ein Risiko. Andererseits ist es aber auch so, dass wir anderthalb Jahre an diesem Projekt gearbeitet haben. Die ganze Arbeit, die wir uns gemacht haben, dreht sich darum, mit dieser Unsicherheit umzugehen. Vorauszuschauen, ohne das Risiko dabei zu entschärfen.

Jérôme Michez: Das ist eine Entscheidung, die wir getroffen haben. Das Risiko ist kein Hindernis, es ist die Grundlage des Spektakels.

Wie muss man sich den Ablauf von „Amer Amer“ vorstellen?

E.R.: Eigentlich schaffen wir den Rahmen. Jérôme und ich halten uns am Anfang am Rand der Bühne auf, wobei wir als Regisseure selbst nicht spielen. Auf der Bühne steht der Schauspieler, wenn die Zuschauer eintreten. Wir sagen: Das, was heute Abend passiert, ist diese Situation von Mutter und Sohn im Auto. Damit das Spektakel stattfinden kann, muss jemand aus dem Publikum auf die Bühne steigen. Das ist der Rahmen. Das Geschehen wird sich dann, wie wir sehen werden, in verschiedene Richtungen entwickeln.

J.M.: … Und das auf eine Weise, die wir nicht unbedingt erwarten. Wir werden die verschiedenen Arten und Weisen kennenlernen, um diese Fiktion entstehen zu lassen.

Und werden Sie auch später noch während der Vorstellung eingreifen?

E.R.: Wir sind besonders am Anfang aktiv, danach interagieren wir weiterhin mit den Personen auf der Bühne, halten uns aber im Hintergrund auf.

J.M.: Es ist eine Regie auf Sicht. Wir sind die Ansprechpartner, die da sind, wenn Tom oder die Person aus dem Publikum sich alleine fühlen oder irgendetwas mehr brauchen – wir können ihnen auch zum Beispiel Requisiten reichen.

„Amer Amer“ funktioniert nicht ohne die physische Anwesenheit des Publikums. Läuft das Spektakel damit nicht der aktuellen Entwicklung des Theaters entgegen? Immerhin wird – befeuert durch Corona – gerade auch nach alternativen Theaterformen, die das Digitale stärker mit einschließen, gesucht.

E.R.: Wir haben uns am Anfang, als wir begonnen haben, an dem Projekt zu arbeiten, gefragt: Was ist die Besonderheit des Theaters? Was ist für uns das Wichtigste? Es ist, mit dem gegenwärtigen Moment zu spielen, und zwar gemeinsam, in einem Raum. Und auf dieser Basis haben wir uns gefragt: Was kann Unerwartetes passieren in diesem Raum, an den wir als Schauspieler und Regisseure so sehr gewöhnt sind?

J.M.: Es ist wahr, dass es eine Auswahl an Mittel gibt, die gebraucht werden, um eine Fiktion zu erzählen. Die betreffen schon anfangs den Text. Wir haben uns die Frage gestellt: Wie bringen wir eine Person dazu, zu spielen? Wir kommen mit einem eigenen Vorschlag an, denn es gibt ja geschriebene Worte, es ist nicht alles improvisiert. Doch wie geben wir der Person diesen Text? Geben wir ihr einen geschriebenen Text, geben wir ihr einen Ohrknopf? Da kann die Technologie helfen. Und um das Auto darzustellen: Benutzen wir da Bildprojektionen? Wir haben uns dazu entschieden, auf diese Technologien zu verzichten, um uns wieder auf die Besonderheit der Beziehung zu konzentrieren. Wir wollten, dass alles Teil des zwischenmenschlichen Austauschs ist, mit so wenig technologischer Einmischung wie möglich. 

Warum ist es eigentlich die Mutter, die mit Tom im Auto sitzt, und nicht der Vater? Warum ist das Geschlecht schon festgesetzt?

E.R.: Das liegt daran, dass Jérôme den Text geschrieben hat und er von etwas spricht, das er kennt. Aber es ist nicht so, dass wir auf das Geschlecht fixiert sind. In den zahlreichen öffentlichen Proben, die wir schon gemacht haben, sind auch schon viele Männer auf die Bühne gestiegen. Und wenn ein Mann auf die Bühne steigt, bleibt er die Mutter von Tom, er wird nicht zum Vater, weil es uns um die Besonderheit des Mutter-Kind-Verhältnisses geht. Wenn man seine Persönlichkeit entwickelt, ist es oft mit der Mutter, mit der ein zärtlicher Austausch stattfindet. Es ist die Verschmolzenheit mit der Mutter, die uns interessiert, und die Frage, inwiefern man zärtlich mit ihr sein oder sich auch von ihr trennen möchte. Die Intensität der Beziehung, die jeder von uns mit seiner Mutter pflegt, steht im Zentrum von diesem Projekt.

J.M.: Zu sagen, dass es sich um die Mutter von Tom handelt, könnte implizieren, dass es eine Frau sein muss, es könnte aber auch implizieren, dass sie 25 Jahre älter sein muss oder die gleiche Hautfarbe wie Tom haben muss. Im Endeffekt ist das aber nicht wichtig.

Kommen wir zum Begriff der Authentizität, der in der aktuellen Kunst ja ohnehin großgeschrieben wird. Für Sie spielt das Persönlich-Erlebte und damit auch das Authentische ebenfalls eine Rolle – inwiefern?

J.M.: Ich als Autor schaffe es nicht, über Sachen zu schreiben, die mir nicht nah sind. Was mich zum Schreiben bringt, ist das Bedürfnis, über Sachen zu reden, die mich betreffen.

E.R.: Der Wunsch, authentisch zu sein, steht meiner Ansicht nach für uns in Verbindung mit der Fähigkeit, zu handeln. Ich habe das Gefühl, dass wenn man von Sachen spricht, die einen nicht betreffen, auf die man nicht reagieren kann und die einem so fern sind, dass sie einen nicht berühren – das verhindert die Authentizität. In den Recherchen, die wir gemacht haben, drehte sich viel um die Frage: Von was können wir mit Authentizität sprechen? Was betrifft uns? Und wo können wir hoffen, eine Wirkung zu haben auf das, was gerade passiert?

J.M.: Aber das ist keine Absage an die Fiktion und an die Fantasie.

Was nähmen die Zuschauer denn idealerweise von der Vorstellung mit?

E.R.: Die Frage, was eigentlich während der Aufführung passiert ist, was sie gesehen haben, von was sie Zeuge wurden.

J.M.: Und was es impliziert, von so etwas Zeuge zu sein.

E.R.: Wir würden uns auch wünschen, dass sich die Zuschauer allgemein Fragen über ihre Beziehungen, die sie mit ihren Liebsten führen, stellten. Wie baut man denn überhaupt eine Verbindung zu anderen auf? Auf welcher Ebene findet der gemeinsame Austausch statt? Auf welcher Ebene schafft man es, einander zu begegnen, im gegenwärtigen Augenblick? Vielleicht auch trotz der ganzen Geschichte des Verhältnisses.