Über eine Stunde spricht Taras Senkiv über einen Krieg, der seit Tagen das Land zerstört, in dem er aufgewachsen ist. Der Ukrainer, der Luxemburg vor sechs Jahren zu seiner Wahlheimat gemacht hat, bleibt gefasst, versucht, sich nicht von Wut oder Emotionen überwältigen zu lassen. Auch nicht, als er von seiner Mutter erzählt. Er kann sogar verstehen, warum die Frau in dieser Ausnahmesituation standhaft bleibt – und sich auch von seinem Hilfsangebot nicht hat umstimmen lassen: „Sie hat ihr ganzes Leben dort verbracht. Mein Vater ist vor sechs Jahren verstorben. Sie hatten dieses Haus gemeinsam aufgebaut. Das will sie jetzt nicht einfach hinter sich lassen.“ Doch die Sorge, es könnte ihr etwas zustoßen, ist nicht zu überhören: „Gott sei Dank ist es im Westen des Landes momentan ruhig.“
Meine Mutter sagte ganz klar: Das ist mein Land, ich gehe hier nicht weg.
Neben der Mutter des Fußballtrainers ist auch seine Schwester in Lwiw geblieben. Die junge Frau ist mittlerweile in der Kommune tätig, als Koordinatorin – die zwischen der Suche nach sicheren Übernachtungsmöglichkeiten für die Einheimischen auch ihren Bruder täglich während der Telefongespräche beruhigen will. „Meine Mutter sagte ganz klar: Das ist mein Land, ich gehe hier nicht weg. Bei meiner Schwester ist es so, dass es ihr hilft, nicht nur rumzusitzen, sondern aktiv zu werden. Sie arbeitet den ganzen Tag, in der Hoffnung, dass das alles schnell vorbei ist.“
Aus der Ferne tatenlos zusehen konnte der junge Ukrainer bei diesen Hiobsbotschaften nicht. Er versuchte, von Luxemburg aus ständig alle Nachrichten zu verfolgen und die Hebel in Bewegung zu setzen, die ihm in dieser schweren Lage blieben. Eine erste Spendenabgabe fand bereits am Dienstag statt. Mit einem Freund aus dem Fußballmilieu setzte er sich am Montagabend um 21.00 Uhr ins Auto und brachte eine erste Lieferung an die polnische Landesgrenze der Ukraine. Medizin und Verbandszeug für verwundete Soldaten und Zivilisten, Schuhe und warme Kleidung für Kinder und Erwachsene: Materialien, die derzeit am nötigsten im Osten des Landes gebraucht werden. Die Spenden wurden vor Ort gleich wieder verpackt, um sie schnellstmöglich ins betroffenste Kriegsgebiet transportieren zu können. „Viele haben einfach nur ihren Pass eingesteckt und sind ohne irgendetwas anderes in Keller oder Metro-Stationen geflüchtet.“
Direkthilfe aus Luxemburg
Was sich hinter der Grenze abspielt, sah der 31-Jährige am Dienstag nicht. „Dafür waren wir an der Stelle, wo wir abgeladen haben, auch einfach zu weit weg.“ Obschon das einzige Bild, das er am Grenzübergang sah, ein Großaufgebot von Soldaten war, weiß Senkiv ganz genau, was es auf der anderen Seite gerade zugeht. Stundenlanges Ausharren vor der Passkontrolle, Tränen und die Angst, dass es der letzte Abschied von den Männern zwischen 18 und 60 Jahren sein könnte, die den Rest ihrer Familie nicht in Richtung Europäische Union und Sicherheit verlassen dürfen.
Ein Weg, den Senkiv 2016 nicht aus Fluchtgedanken heraus einschlagen musste, sondern weil er seiner Frau, Trainerin der Rhythmischen Sportgymnastik, damals nach Luxemburg gefolgt ist. „Ich will mich weiter integrieren und hierbleiben“, sagt der Co-Trainer von Marisca Mersch – auf Luxemburgisch. In einen sinnlosen Krieg zu ziehen, stand demnach nicht zur Debatte, besonders da der frühere Fußballspieler „auch von hier aus helfen und mobilisieren kann. Ich merke, wie groß die Unterstützung ist. Ich habe viele Menschen gesehen, die helfen wollen – und zwar nicht nur aus unserer Diaspora, sondern unabhängig von Nationalitäten und Herkunft.“ Zusammen mit seinem Fußballverein werden in den nächsten Tagen weiter Spenden gesammelt. Angeschlossen haben sich ebenfalls Daring Echternach und die Jugend der UN Käerjeng.
Zwischen diesen beiden Welten pendeln die Gedanken des jungen Mannes jede Sekunde des Tages – die der Solidarität in seiner Wahlheimat und der Machtlosigkeit gegenüber den Sorgen um seine Familie in der Ukraine. „Wir haben nicht die richtigen Waffen“, meint Senkiv, ohne dabei Resignation ausstrahlen zu wollen. Stattdessen merkt man ihm die Wut in der Stimme an. „Ich habe gehört, dass ein kilometerlanger Konvoi in Richtung Kiew anrollt. Die wollen jetzt rein … Es ist alles nicht normal. Es wurde bereits auf die Zivilbevölkerung geschossen. Es sollen am Dienstag 22 Zivilisten ums Leben gekommen sein. Sobald die Sirenen losheulen, muss jeder in seinen Keller rennen.“ Der 31-Jährige erzählt weiter über erschütternde Momente eines Krieges. Die schlimmsten Szenen würden sich nicht direkt vor den Augen seiner Familie abspielen, sagt er. „Und das alles nur, weil ein kleiner – Entschuldigung – Idiot, das so will.“ Auch der Name eines deutschen Diktators fällt. „Nicht mal die jungen Leute in Russland verstehen Putins Politik.“
Ja, ich habe Angst. Aber ich weiß auch, dass unsere Nation einen starken Charakter hat, um bis zum Schluss zu gehen. Ein Krieg dauert nicht nur eine Woche.
Vor 49 Jahren kam Mikhail Zaritski, ehemaliger Luxemburger Nationalstürmer, in Sankt Petersburg zur Welt. Heute ist er Trainer des Ehrenpromotionärs Mersch – eben an der Seite des Ukrainers. Nicht nur beim Sport teilt das Duo eine Meinung: „Er sagte mir auch: Das ist verrückt und scheiße, dass Menschen wegen so etwas sterben.“ Denn auch Senkiv hat Mitleid mit russischen Eltern, die ihre Söhne nie wiedersehen werden. „Einige werden wohl nie erfahren, wo und wann die Soldaten gestorben sind. In Russland ist es schwer, auf die Straße zu gehen, um zu demonstrieren, aber der Widerstand gegen den Krieg ist da.“
Ein Idiot, zwei Probleme
Dass es überhaupt zu diesem Horror kommen würde, hatte sich der Co-Trainer, trotz angespannter Lage am Donbass, nicht unbedingt erwartet. Noch haben seine Schwester und seine Mutter die Möglichkeit, sich mit Essen zu versorgen. Aber die Lage spitzt sich zu. In den Krankenhäusern fehlt bereits Material wie Ibuprofen, aber auch Medizin für Krebspatienten. Wie bedrohlich das alles auf einen Außenstehenden wirkt, erklärt Senkiv mit folgenden Worten: „Ja, ich habe Angst. Aber ich weiß auch, dass unsere Nation einen starken Charakter hat, um bis zum Schluss zu gehen. Ein Krieg dauert nicht nur eine Woche.“ Anders als Viktor Janukowitsch habe man diesmal mit Wolodymyr Selenskyj einen Präsidenten an der Front, der seinem Volk Treue geschworen hat. „Alle hielten ihn für einen Clown, aber er ist da geblieben.“
Wann sich der Wunsch, das Blutvergießen so schnell wie möglich zu beenden, erfüllen wird, weiß niemand. Nicht nur die Ukrainer hatten keine Zeit, mit Corona abzuschließen: „Wir haben eine große Pandemie und ein Idiot bereitet uns dann ein viel größeres, zweites Problem. Das bedeutet alles sehr viel Stress. Ich will, dass dieser Krieg schnell gestoppt wird.“ Das will wohl jeder, der das Leid in seiner Stimme und jener der anderen gehört hat. „In den Augen der Soldaten, die unsere Spenden abgenommen haben, sieht man die Sorge. Diese Jungs sind nicht älter als ich …“
Es wird nicht lange dauern, bis er wieder in diese Augen blicken wird. Bereits nächste Woche wird der nächste Lastwagen, organisiert von den freiwilligen Helfern des Fußballvereins, sich ein weiteres Mal auf die 30-stündige Reise machen. Genau wie seine Schwester in der Ukraine bemüht ist, Leben zu retten, wird Senkiv das von der anderen Seite der Grenze weiter versuchen.
Spenden möglich
Marisca Mersch sammelt weiter fleißig Spenden. Gebraucht werden neben Medizin ebenfalls Kleidung und Schuhe für Erwachsene und Kinder, Schlafsäcke und Decken. Abgeben kann man diese Dinge am Donnerstag ab 18.30 Uhr in der Buvette des Vereins, oder aber am Sonntagnachmittag beim Heimspiel des Ehrenpromotionärs. Weitere Informationen finden Sie auf der Facebookseite des Vereins. Gespendet werden kann auch an die LUkraine asbl, das Rote Kreuz und weitere Hilfsorganisationen.
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