So richtig weiß Alex Kirsch erst nicht, was er rückblickend zur vergangenen Saison sagen soll. Er nimmt sich einen Moment Zeit, resümiert, spricht über die Corona-Infektion, die ihn die Frühjahrsklassiker gekostet hat. Er spricht auch über die Nichtnominierung zur Tour, dazu kommen die verpasste Selektion bei Olympia und Stürze bei der Weltmeisterschaft sowie bei Paris-Roubaix. Und dann sagt Kirsch: „Das war vielleicht mein bestes Jahr.“ Warum das so ist, erklärt er.
Klar ist, der 29-Jährige hat gemischte Gefühle, wenn es um 2021 geht. Die verpassten Chancen sind nicht spurlos an ihm vorbeigezogen – sondern haben aus ihm einen noch kompletteren Fahrer gemacht. „Wie ich auf diese Rückschläge reagiert habe, fand ich sehr gut“, sagt er. „Ich habe mich nicht hängen lassen, sondern habe weitergemacht. Nach der Nichtnominierung für die Tour hat man mir gesagt, dass sie es im Team verstehen würden, wenn ich nun nur noch kleinere Rennen fahren wollte. Ich hatte immerhin viel für die Tour investiert. Ich habe mir eine Woche Bedenkzeit genommen und kam zu dem Entschluss, dass dieser Weg zu einfach gewesen wäre.“ Kirsch wollte zur zweiten Saisonhälfte wieder zur alten Stärke zurückfinden. „Erstens war es ein Charaktertest für mich. Und zweitens wollte ich die Bestätigung haben, dass ich die Form für die Vuelta wieder erreichen kann.“ Resümierend und abschließend sagt Kirsch: „Eigentlich war es ein sehr gutes Jahr für meine Karriere. Wenn es immer einfach ist, kommt man nicht weiter.“
Doch nicht nur dieser bestandene Charaktertest liefert Kirsch Argumente, warum 2021 ein gutes Jahr war. „Ich bin vom ersten bis zum letztem Rennen auf einem sehr hohen Niveau gefahren, ohne einen Durchhänger zu haben“, sagt Kirsch. „Ich habe ein neues Level erreicht. Was ich 2020 angetastet habe, konnte ich 2021 durchziehen. Es war Konstanz da – auch wenn Konstanz manchmal was Schlechtes sein kann. Ich bin allerdings auf einem hohen Niveau gefahren, das macht mich glücklich.“
Umzug nach Andorra
Nach der Saison hat sich für seine Familie und ihn Grundlegendes geändert: Im Oktober 2021 hat er mit seiner Frau Sophie den Beschluss gefasst, nach Andorra zu ziehen. „Es war ein längerer Entscheidungsprozess, den wir vor etwa einem Jahr angefangen haben“, sagt Kirsch, dessen Vertrag bei Trek-Segafredo Ende 2023 ausläuft. „Unsere Idee war nicht, auszuwandern, sondern für eine Zeit lang woanders zu wohnen. Wahrscheinlich sollte das erst nach der Karriere passieren – aber nun hat es sich eben so ergeben.“ Seine Ehefrau kümmert sich hauptsächlich um den Nachwuchs der Familie, Sohn Nicolas, der nun rund 15 Monate alt ist. „Solche Sachen schiebt man immer auf. Dann ist man im Leben so beschäftigt, dass man es doch nicht macht. Vor allem mit Kind wird es schwierig, wenn es zur Schule geht. So gesehen war es also der perfekte Moment.“
Und auch wenn es sich, drei Monate später, noch wie Ferien anfühle, sei die Entscheidung zu 100 Prozent die richtige, sagt der 29-Jährige. „Wir hatten bis jetzt Glück, dass immer die Sonne geschienen hat. Es ist unglaublich schön, hat eine super Infrastruktur und ähnelt Luxemburg. In den vergangenen Monaten habe ich aber auch gemerkt, was für ein geniales Land Luxemburg ist. Der Wechsel hat aber gut getan.“ Auch sportliche Auswirkungen könnte der Wechsel für ihn haben. In Andorra leben unter anderem seine Teamkollegen Kenny Elissonde, Toms Skuijns, Jacopo Mosca, aber auch Ben O’Connor (Ag2r Citroën) oder Julian Alaphilippe (Quick-Step Alpha Vinyl) haben sich für eine Residenz in Andorra entschieden. „Ich habe gemerkt, dass es in Luxemburg nicht mehr so einfach ist, im Winter zu trainieren. Als ich Profi wurde, gab es Gruppen, in denen man sich geschrieben hat, um gemeinsam rauszukommen und sich zu motivieren. Mittlerweile gibt es nur noch wenig Radfahrer. Hier in Andorra habe ich neue Strecken, neue Trainingsgruppen – das tut mir sehr, sehr gut.“
Giro oder Tour – oder beides?
Dieses Jahr soll, wenn alles nach Plan läuft, wieder Normalität in seinen Rennkalender einkehren – zumindest was das Frühjahr betrifft. Kirsch, der aktuell noch bis zum 23. Januar im Trainingslager des Teams in Denia (E) ist, startet beim Grand Prix Cycliste La Marseillaise (30.1./1.1), dann bei der Etoile de Bessèges – Tour du Gard (2.-6.2./2.1), der Algarve-Rundfahrt (16.-20.2./2.Pro), um dann fit für die Klassiker zu werden. Auch beim Eröffnungswochenende, das traditionellerweise aus dem Omloop Het Nieuwsblad (26.2./1.UWT) und Kuurne -Brüssel-Kuurne (27.2./1. Pro) besteht, ist er dabei. Danach folgt Paris-Nice (6.-13.3./2.UWT), bevor die Rennen in Flandern anstehen. „Dann ist es unklar, wie es weitergeht“, sagt Kirsch. Im Raum steht entweder die Teilnahme am Giro oder der Tour de France, oder gar an beiden.
Trotz der Enttäuschung, die Tour im letzten Jahr verpasst zu haben, muss es in diesem Jahr nicht zwingend die Teilnahme an der „Grande Boucle“ sein. „Ich habe das Gefühl, in Luxemburg wurde das, was ich gesagt habe, viel schlimmer aufgefasst. Ich finde es eigentlich normal, dass ein Fahrer im Sport frustriert ist. Im Sport gibt es immerhin mehr Misserfolge als Siege. Man muss sich hohe Ziele setzen. Ich war erstaunt, dass so viele Leute überrascht über mein Verhalten waren. Im Team hat mir das niemand übelgenommen, jeder hat das verstanden. Wäre ich selektioniert worden, wäre ein anderer Fahrer genauso frustriert. Das gehört einfach dazu.“
Der Fokus liegt doch erst mal auf dem Frühjahr. „Mein Ziel ist es, und da bin ich zuversichtlich, die Finals mitzubestimmen und mitzufahren. Das Team hat viel Arbeit verrichtet, um uns für die Klassiker zu verstärken. Im letzten Jahr waren wir nicht so breit aufgestellt. Ich hoffe, dass ich in diesem Jahr später arbeiten können werde.“ Wenn die Klassiker vorbei sind, wird wohl auch schon die Entscheidung gefallen sein, welche Grand Tour Kirsch bestreiten wird. Sicher ist, dass er mindestens eine fahren will – und das soll nicht die Vuelta sein. „Es gibt im Zeitraum der Spanien-Rundfahrt viele andere Rennen, die mir liegen. Ich habe nichts gegen die Vuelta und war letztes Jahr sehr froh, sie zu fahren, weil ich dadurch stärker wurde. Aber mit der gleichen Form hätte ich bei Rennen wie der Benelux-Tour, dem Arctic Race of Norway oder der Dänemark-Rundfahrt etwas erreichen können.“
Das will Kirsch in diesem Jahr nachholen – und bei solchen Rennen dann auch auf persönliche Ergebnisse fahren. „Weil ich ein sehr guter Helfer bin, gibt es wenig Rennen, bei denen ich auf eigene Resultate fahren kann. Ich muss dafür allerdings umdenken, da muss ich dran arbeiten: Vom Edelhelfer eines Rennens zum Rennen, bei dem ich ein Resultat liefern will.“
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